Rimini Protokoll in Essen: „Herr Dagaçar und die ...“

Von Achim Lettmann ▪ ESSEN–Sie schütten einen mannshohen Müllsack aus. Pet-Flaschen, Dosen, Pappröhren, Plastikverpackungen, Tüten und Papierreste überschwemmen die Bühne auf Pact Zollverein in Essen. Dann machen die Männer aus der Türkei das, was sie am Leben hält – Müll sortieren. Schnell und versiert packen sie zu. Bayram weiß, wieviel Plastik, Eisenschrott, Flaschen und alte Gegenstände er sammeln muss, um seine Frau und die drei Kinder zu ernähren: „200 Kilo Papier bringen 15 Euro.“ „Herr Dagaçar und die goldene Tektonik des Mülls“ ist der Titel der Aufführung.
„Performance“ wird die aktuelle Arbeit des Rimini Protokolls genannt. Helgard Haug und Daniel Wetzel gehören neben Stefan Kaegi zum Label Rimini Protokoll. Die Gruppe hat eine Strömung an bundesdeutschen Theatern und auf Festivals initiiert, die der Realismusbearbeitung neue Impulse gegeben hat. Der Theaterraum wird als Illusionskasten zurückgebaut. Statt Schauspieler treten Menschen auf, die in eigener Sache sprechen. Zum Beispiel waren zur Produktion „Prometheus in Athen“ Griechen in Athen und Essen zu sehen, die erläuterten, was ihnen das Theater Aischylos‘ bedeutet. Was wirkt vom Ursprung der Demokratie noch heute nach?
Die Regisseure vom Rimini Protokoll inszenieren Authentizität, in dem das Theater zum Ort der Begegnung wird. Auf Pact Zollverein in Essen stellen sich vier Müllmänner vor. Es ist das zweite Projekt, das Haug und Wetzel mit Ruhr.2010 verwirklichen. Die Uraufführung fand in Istanbul statt, wo „Herr Dagaçar und die goldene Tektonik des Mülls“ in einer Reihe des Produktionshauses garajistanbul lief.
„Je voller der Plastiksack ist, umso glücklicher werde ich.“ Die Männer aus Ost-Anatolien, die in Istanbul Müll sammeln, demonstrieren in Essen allerdings nicht nur den Überlebenskampf. Anfangs führen sie ein traditionelles Spiel mit Steinen vor. Ein Video zeigt als schmale Breitwandprojektion eben solche Spielszenen von einer staubigen Hochebene. Es sollen Bildmomente sein, keine Dokumentationen, dafür sind die Ausschnitte zu sporadisch. Später sind noch die Mülldepots zu sehen, wohin die Männer ihre Ausbeute bringen. Den größten Anteil an diesem Abend haben ihre Erzählungen. Was träumen sie, welche Motive haben sie, was sagen sie zu ihrer Arbeit? Es sind nüchterne Berichte, die ungeschönt den Alltag skizzieren: Arroganz der Großstädter, Repressalien durch die Polizei. Hemd und Hosen werden nie gewaschen, sondern weggeworfen. „Wir finden neue.“ Herd, Zelt und Bett entstehen aus Fundstücke vom Wegesrand. Auch sie wollen eine bessere Welt. „Ich will nicht Brot im Müll finden.“ Keine toten Tiere, keine Krankenhausabfälle. Und wenn Bayram sagt, „ich bin frei, weil ich Efes-Bier trinken kann“, dann ist er schon wieder humorvoll, während das Publikum noch über das Schicksal der Männer grübelt.
Zwischendurch zeigt der Karagöz-Spieler Hasan Hüseyin Karabag mit seinen Schattenfiguren kleine Geschichten und wettert als „Theatermann“ über die fehlende Anerkennung und Ignoranz, der er immer mal wieder ausgesetzt wird.
Die unvermittelten Auftritte der Männer, ihr Mut sich zu offenbaren, sind der Stoff aus dem sich dieses Theater des Realen entwickelt. Das Rimini Protokoll verführt nicht, es führt uns an Menschen heran, von denen wir bis zu diesem Abend gar nichts wussten. Kulturtechniken wie das Wurfspiel, Karagöz oder Video werden als Vermittlungsträger eingesetzt und helfen dabei, dass das Theater übers situative Verständnis auch vereint.
Aufführungen
Nach der Uraufführung am 15. Oktober in Istanbul war die neue Produktion des Rimini Protokolls am Wochenende in Essen zu sehen. Weitere Termine der Produktion gibt es in den Niederlanden.
3. bis 4. Dezember in der Rotterdamer Schouwburg
6. bis 7. Dezember in der Utrechter Stadsschouwburg