Sie werden immer gewalttätiger – „Corona hat Kinder aggressiver gemacht“
Klaus Riedel erkennt infolge der Corona-Pandemie ein gestiegenes Gewaltpotenzial bei Kindern und Jugendlichen. Der Bielefelder Experte warnt vor Schnellschlüssen.
Bielefeld – Überfälle, Raubzüge, Körperverletzung: Immer öfter begehen Jugendliche Straftaten und oft sind die Täter sogar noch Kinder. Das zeigt die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für das Jahr 2022. „Kinder und Jugendliche streiten heute emotionaler und gewalttätiger“, kommentierte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) die hohe Jugendkriminalität. Er glaubt, dass die besorgniserregenden Zahlen auch Folge der Corona-Zeit ist: „Wenn Sie so wollen, sind sie der Beweis dafür, dass die Pandemie unsere Kinder verändert hat.“ Im Gespräch mit Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Klaus Riedel geht wa.de dieser These nach.
NRW-Kriminalstatistik für das Jahr 2022: Anstieg im Bereich der Kinder- und Jugendkriminalität
Mit rund 1,37 Millionen Delikten sind die Kriminalitätszahlen in Nordrhein-Westfalen 2022 im Vergleich zum Vorjahr insgesamt um 13,7 Prozent gestiegen. Etwa jeder Fünfte der rund 480.000 Tatverdächtigen sei jünger als 21 Jahre gewesen, hieß es bei der Vorstellung des Berichts im Februar 2023. Die Gesamtzahl der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen stieg von 86.000 auf 103.000.
In Bezug auf den deutlichen Zuwachs erklärte Innenminister Herbert Reul: „Auffällig ist, dass sich ganz offensichtlich bei den Jüngsten unter 14 Jahren etwas getan hat.“ Die Zahlen seien ein „Arbeitsauftrag“ resümierte der CDU-Politiker, „für die Polizei, aber genauso für uns als gesamte Gesellschaft“.
Beispiele für die Jugendkriminalität lassen sich mit Blick auf jüngste Vorkommnisse in großen NRW-Städten schnell finden. In Wuppertal überfielen vier Jungen im März 2023 eine Tankstelle, bedrohten dabei eine Verkäuferin – drei der Delinquenten waren erst zwölf, 13 und 14 Jahre alt. Und regelrechte Raubzüge von marodierenden Teenie-Banden beschäftigen Einsatzkräfte in Gelsenkirchen. Ein Sprecher der Polizei erklärte gegenüber wa.de: „Wir beobachten dieses Phänomen seit rund einem halben Jahr.“
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut über Corona-Folgen: „Da kommt eine ganze Wucht auf uns zu“
„Ich muss Herrn Reul schon recht geben. Die Aggressivität unter Kindern und Jugendlichen hat durch Corona zugenommen“, sagt Klaus Riedel. Der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut betreibt eine Praxis in Bielefeld, in der er mit den Auswirkungen der Pandemie täglich konfrontiert wird: „Wir beobachten eine große Anzahl von Kindern mit Impulskontrollstörungen, da kommt eine ganze Wucht auf uns zu.“ Riedel führt aus, dass die Empathiefähigkeit bei vielen seiner jungen Patienten abgenommen habe. Für den Bielefelder Experten kein Wunder: „Krisen erhöhen den Stress und sorgen dafür, dass innerer Halt verloren geht.“

Viele Begegnungsorte blieben während der Pandemie-Zeit geschlossen, Kinder zogen sich zwangsweise in familiäre Strukturen zurück. Das sei nicht für alle positiv gewesen, sagt Riedel. Es sei nun dringend geboten, jegliche Maßnahmen für Kinder und Jugendliche zu intensivieren, die Bindung, Halt und Sicherheit gewährleisten, „zweitrangig, ob das in der Schule, im Verein oder im Zuge sozialer Projekte geschieht“.
Gewalteskalationen in NRW-Großstädten: „Teenie-Gangs wollen um jeden Preis auffallen“
Dass bei jüngsten Gewalteskalationen immer wieder Großstädte in Nordrhein-Westfalen im Fokus standen, führt Riedel auf eine infolge der Corona-Phase entstandene Lücke zurück. „Diese Teenie-Gangs suchen nach der Möglichkeit, gesehen und anerkannt zu werden, um jeden Preis aufzufallen“, erklärt der Experte aus Bielefeld. „Es gibt Bereiche in Städten, die von Jugendbanden ‚beherrscht‘ werden. Andere Jugendlichen trauen sich dort nicht mehr hin. Dem muss Einhalt geboten werden.“
Im Interview mit wa.de benannte Innenminister Reul eine weitere Begleiterscheinung der Kinder- und Jugendkriminalität, die sich unter anderem bei Angriffen auf Einsatzkräfte in der Silvesternacht manifestiert hatte: „Wir haben häufig ein Problem, die Täter zu erkennen. Wenn Taten aus Gruppen heraus passieren, ist es schwer, einen Verdächtigen zu identifizieren. Gerichte brauchen aber Namen und Beweise.“ Der CDU-Politiker regte an, über eine gesetzliche „Nachschärfung“ nachzudenken. Psychotherapeut Riedel hält entschieden dagegen: „Es bringt jetzt überhaupt nichts, mit der Sanktionskeule zu schwingen.“
Gesetzliche Nachschärfung? Psychotherapeut findet Reul-Vorschlag wenig zielführend
Reuls klassischer Weg sei es, den Polizeiapparat zu stärken – für Riedel unter pädagogischen Gesichtspunkten der falsche Ansatz: „Wir haben es infolge der Pandemie mit eingeengten Entwicklungsbedingungen für Kinder und Jugendliche zu tun. Dazu kommen Einflüsse wie der Ukraine-Krieg und die Klimakrise. Härtere Strafen zu fordern, ist nicht zielführend.“
Der Bielefelder Fachmann wirbt für ein enges Zusammenspiel von Polizei und Pädagogik, um dem erhöhten Gewaltpotenzial bei Kindern und Jugendlichen zu begegnen. „Viele können wir noch vor dem Jugendarrest erreichen“, ist sich Riedel sicher – nicht zuletzt mit Blick auf eigene Erfahrungen: „Ich erlebe in Einzelgesprächen mit in Gruppentaten verwickelten Patienten oft, dass diese total offen und dankbar für den Austausch sind. Ich glaube, das ist der Weg.“