Umso schockierter ist die Dortmunderin, als sie nach einer fast schlaflosen Nacht am nächsten Morgen von einem Oberarzt angerufen wird. Erst auf seine Intervention hin soll erst jetzt ein CT vom Kopf gemacht worden sein, sollen erst jetzt CT-Bilder vorliegen. Und die zeigen Hirnblutungen von so dramatischen Ausmaßen, dass keine Hoffnung mehr besteht.
Erwin Marx stirbt zwei Tage später. Izabela hat zuvor noch einer Organspende zugestimmt. „Damit hat er noch eine letzte gute Tat getan“, sagt sie.
„Sie hat mehrmals in der Intensivstation gebeten und gebettelt, ein CT vom Kopf ihres Mannes zu machen. Jetzt ist er tot“, sagt Horst Glanzer. Wer mit dem Mann aus Niederbayern spricht, bemerkt schnell, was für ein Furor ihn antreibt. Vielleicht passt hier ein Vergleich aus dem Fußball ganz gut, in dem man Spieler, die einem nicht von der Seite weichen, als „Terrier“ bezeichnet. Es sind Spieler, die an den Nerven sägen. Glanzer kann das auch: Er insistiert, er fordert, er klagt an, manchmal ist er den Tränen nahe, manchmal schreit er. Wer seine Geschichte kennt, der sagt sich: Er darf das, ja mehr noch – in seinem Fall ist es legitim und vielleicht der einzige Weg, um an seine Ziele zu kommen. Einige hat er schon erreicht, auch wenn es ihm selbst nicht mehr geholfen hat.
Glanzer ist als Patient selbst ein Opfer geworden. Seinen eigenen Kampf vor Gericht hat er verloren. 2003 erkrankte der Ex-Polizist schwer. Eine Nebenhöhlenvereiterung sowie Vorerkrankungen machen eine schnelle und spezielle Behandlung erforderlich. Doch die private Krankenversicherung lässt sich Zeit mit der Deckungszusage, zu viel Zeit. Die Bakterien sind schneller. Die Folge ist ein schreckliches Krankheitsbild, seitdem ist Glanzer ein schwerkranker, gezeichneter Mann. Er hat seine Zähne verloren, Kiefer- und Schädelknochen sind teilweise ruiniert. „Ich war fast tot, stand kurz vor der Erblindung. Ich habe heute kein Immunsystem mehr, habe fünf Tumore. Ich weiß nicht, wie es weitergeht mit mir“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Körperlich zwar längst gebrochen, mental aber weiter voller Energie. Seitdem kämpft er vor Gericht und in der Politik für Patientenrechte, unbeirrt, hartnäckig. In den Medien wird er als „Ein-Mann-Bürgerwehr“ bezeichnet, manche wähnen ihn „im Krieg“. Er bearbeitet Politiker quer durch alle Fraktionen, reicht Petitionen ein. Mit Erfolg.
2011 erwirkt Glanzer eine Reform des Paragrafen 522 der Zivilprozessordnung. Jetzt können Kläger Rechtsmittel einlegen, falls eine Berufung vom Gericht zurückgewiesen wird. Dies war in seinem eigenen Fall nicht möglich gewesen, weshalb Glanzer seinen eigenen Prozess verloren hatte. 2013 beschließt der Bundestag auf Glanzers Drängen, dass Krankenversicherungen in dringenden Fällen sofort und bei voraussichtlichen Kosten von über 2000 Euro eine Kostenübernahme-Erklärung innerhalb von zwei Wochen verbindlich abgeben müssen – tun sie das nicht, gehen die Kosten automatisch zu ihren Lasten. 2019 wird unter anderem auf Glanzers Initiative hin das Sachverständigenrecht geändert, um die Neutralität von Gutachtern sicherzustellen. Glanzer stärkt die Rechte von Patienten, unzählige Menschen profitieren davon. Und seit Jahren kämpft er für die Beweislastumkehr bei Behandlungsfehlern, hat zuletzt auch intensiv auf die entsprechende Arbeitsgruppe in Berlin eingewirkt, die am Koalitionsvertrag mitgearbeitet hat. Als Glanzer diesen am Mittwoch nach der Veröffentlichung in den Händen hielt, sah er sich für seinen Einsatz teilweise belohnt. Die Ampelparteien hatten folgenden Passus aufgenommen: „Bei Behandlungsfehlern stärken wir die Stellung der Patientinnen und Patienten im bestehenden Haftungssystem. Ein Härtefall-Fond mit gedeckelten Ansprüchen wird eingerichtet.“ Für Glanzer ein wichtiger Schritt. „Dieses Gesetzgebungsverfahren ist eines meiner wichtigsten“, sagt er: „Ich will nicht parteipolitisch arbeiten, sondern ich möchte die Bürgerinnen und Bürger mit diesen Rechten versehen. Das ist mein Motiv.“
Deshalb unterstützt er auch Izabela Marx. Eine Freundin der Witwe war über das Internet auf Glanzer aufmerksam geworden und hatte den Kontakt gesucht. Der Ex-Polizist vermittelte Izabela Marx die Rechtsanwältin Dr. Christina Schaefer, die nun die Interessen der Witwe vertritt. Die beiden Ärzte, die am 1. August Dienst hatten, hat die Witwe angezeigt. Die Staatsanwaltschaft Dortmund führt ein Todesermittlungsverfahren. Marx sagt: „Ärzte schwören doch einen Eid, dass sie alles tun, um einem Patienten zu helfen.“ Diese beiden Ärzte hätten aber eben nicht alles getan.
Die Aufnahmen vom Kopf seien viel zu spät erfolgt. Am Sonntag habe es immer nur geheißen, dass man einen Herzinfarkt ausschließen könne und ansonsten nicht sicher sei, was ihrem Mann fehle. Glanzer sagt: „Wenn ein Mann zweimal mit Astrazeneca geimpft ist und es weltweit bekannt ist, dass es in seltenen Fällen zu Hirnvenenthrombosen kommen kann, dann muss doch ein Klinikum definitiv nach Notarzteinweisung ein CT vom Kopf machen.“
Rechtsanwältin Schaefer ist bei der Durchsicht der Behandlungsunterlagen auf mehrere bemerkenswerte Punkte gestoßen. Der aus ihrer Sicht wichtigste: Schon ganz früh sei dokumentiert, dass die Pupillen des Patienten lichtstarr seien. „Das weist auf einen erhöhten Hirndruck hin und hätte unbedingt zum Anlass genommen werden müssen, Aufnahmen vom Kopf zu machen“, so Schaefer gegenüber unserer Redaktion.
Solange der Fall bei der Staatsanwaltschaft liegt, kann Schaefer für ihre Mandantin noch kein Schmerzensgeld und keinen Schadenersatz einklagen. Geld als Entschädigung ist Izabela Marx aber auch gar nicht so wichtig. „Ich will, dass diese beiden Menschen bestraft werden“, sagt sie bitter. „Kein Patient hat diese Ignoranz verdient. Für mich sind sie schuld an Erwins Tod.“
Horst Glanzer weiß aus eigener Erfahrung, wie zermürbend diese Verfahren sind. „Wenn man verpfuscht ist oder jemanden verloren hat – da prozessiert keiner mehr jahrelang, das schafft kaum einer“, sagt er. Glanzer ist durch Prozesskosten mittlerweile hoch verschuldet, ihm droht nach eigener Aussage die Obdachlosigkeit. Unterstützer haben ein Spendenkonto für ihn eingerichtet (VR-Bank Passau, IBAN: DE66 7409 0000 0003 3335 23, BIC: GENODEF1PA1). Er sagt: „Ich habe vielen Menschen geholfen. Es wäre schön, wenn man nun auch mir helfen würde.“ Glanzer selbst wird an der Seite von Izabela Marx bleiben.
Das Klinikum Dortmund will sich im laufenden Verfahren nicht zu dem Fall äußern.