Pogromnacht: 100 Werner an Verbrechen beteiligt

WERNE - Als vor 75 Jahren in der Nacht vom 9. auf den 10. November die damals etwa 40 Angehörigen der neun jüdischen Familien in Werne von Mitbürgern überfallen, brutal misshandelt und gejagt, ihre Wohnungen und Geschäfte verwüstet und geplündert wurden, haben sich um die hundert Werner an dem schweren Pogrom in der so genannten „Reichskristallnacht“ beteiligt.
Von dem „Werk Auswärtiger“, wie es lange Zeit zur Verschleierung der tatsächlichen Ereignisse hieß, kann bei dem brutalen Auftakt der Verhaftungen und Deportationen deutscher Juden in dieser Stadt keine Rede sein.
So ist es den Vernehmungsprotokollen und Urteilen der späteren Prozesse gegen die Hauptakteure zu entnehmen, die sich nach Kriegsende für diese Verbrechen verantworten mussten und bis auf wenige Ausnahmen zu Haftstrafen verurteilt wurden.
Diese Dokumente finden sich unter den bislang unbearbeiteten Unterlagen über das Schicksal der Werner Juden, die der Werner Historiker Josef Börste entdeckt hat. Mit Börstes Unterstützung hat der Westfälischer Anzeiger bereits eine lose Folge von Sonderveröffentlichungen über bislang unbekannte Fakten der Juden-Verfolgung in Werne aufgelegt und kann heute erstmals detailliert über die Ereignisse in der Pogromnacht 1938 berichten.
Aus den Vernehmungsprotokollen und richterlichen Feststellungen ergibt sich ein klares Bild von den Verbrechen jener Nacht: Unter den Augen der zur Untätigkeit angehaltenen Werner Polizei, und nach vorheriger Unterrichtung des Bürgermeisters Dr. Georg-Johann Kraus, gingen in einer ersten Welle der Gewalt die hiesigen Mitglieder der SS in mehreren Rotten gezielt gegen die jüdischen Familien vor. Sie waren zuvor mit einem Autobus von einer Vereidigungsfeier der Rekruten des SS-Sturmbanns in Ahlen zurückgekehrt, wo sie den Befehl zu der „Juden-Aktion“ erhalten hatten. In einer zweiten Welle der Gewalt zerstörte der entfesselte Mob, was danach noch übrig geblieben war.
Dass die Werner Synagoge nicht niedergebrannt wurde, wie im ganzen Land vielfach geschehen, ist nach Zeugenaussagen nur auf das Einschreiten der am Abend im Café Bisping versammelten Feuerwehr zurückzuführen. Sie hatte zuvor als Fackelträger mit NSDAP-Formationen an der „Gedenkfeier für die Gefallenen der Bewegung“ teilgenommen, die quasi Ausgangspunkt der nächtlichen Übergriffe war. Als die Feuerwehrmänner von der „Juden-Aktion“ hörten, schritten sie insofern ein, dass sie eine Brandstiftung verhinderten und nach eigenen Angaben deshalb Wache hielten.
Die Synagoge stand, wie die neuen Dokumente präziser als bisher belegen, in der kleinen Gasse, die heute die Marktpassage zur Bonenstraße ist. Dort befanden sich neben dem Eckhaus der Schlachterei Bolwin (heute Frisör Quante) das in den 1950er Jahren abgerissene Haus Markt 12 der jüdischen Gemeinde (heute Standort des Piano Cafés) und direkt daneben die kleine, zu Beginn des Jahres 1940 abgerissene Synagoge (heute Innenhof Fränzer).
Das Gebetshaus wurde in der Pogromnacht verwüstet und geschändet, aber entgegen der Pläne der SS nicht in Brand gesteckt. Die Feuerwehr warnte, dass die Flammen unkontrollierbar auf die enge Innenstadtbebauung übergreifen könnten. Nur deshalb ließen die Täter davon ab, während ihnen sonst niemand Einhalt gebot.
Genug hatten sie ohnehin nicht: Nachdem der Befehl in Werne erfüllt war, fuhr der SS-Zug nach Drensteinfurt und schlug dort gegen die jüdischen Familien und die Synagoge los. Auf dem Rückweg überfielen die Werner SS-Schergen mit Zivilisten im Tross in Herbern die Familie Samson und wüteten in deren Haus.
Von Bernd Kröger