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Pflege-Skandal: Tochterfirma in der Türkei stoppt Fachkräfte-Vermittlung

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Von: Jürgen Menke

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der Türkei angeworben und dort über Tochterfirmen geschult. Nach WA-Informationen wurde das Vermittlungsverfahren für 60 Pflegekräfte von jetzt auf gleich gestoppt.
Sein Personal hatte der insolvente Bönener Pflegedienst auch in der Türkei angeworben und dort über Tochterfirmen geschult. Nach WA-Informationen wurde das Vermittlungsverfahren für 60 Pflegekräfte von jetzt auf gleich gestoppt. © Mascha Brichta, dpa

Die Insolvenz des Bönener Pflegedienstes hat nicht nur für Hunderte verzweifelte Patienten und gekündigte Beschäftigte gesorgt, sondern auch viele private Träume platzen lassen: bei Pflegekräften aus der Türkei, die zum Leben und Arbeiten nach Deutschland kommen wollten.

Bönen/Istanbul – Fachkräfte zu finden, wird immer schwerer. Vor allem in der Pflege und ganz besonders in der häuslichen Intensivpflege. Der Bönener Pflegedienst, der bundesweit tätig war und dessen De-facto-Geschäftsführer wegen Betrugsvorwurfs weiterhin in Untersuchungshaft sitzt, brauchte offenbar viele. Nach WA-Informationen hat er regelmäßig in der Türkei neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter akquiriert – etwa mithilfe von TV-Sendungen und Videoclips im Internet, in denen die vermeintliche Erfolgsgeschichte des Unternehmens erzählt wurde.

60 Pflegekräfte betroffen

Aufgabe einer Tochterfirma in Istanbul war es, die geworbenen Pflegekräfte – etwa mithilfe von Sprachkursen – auf ihren Einsatz vorzubereiten und ihnen die nötigen Papiere zum Arbeiten in Deutschland und speziell beim Bönener Pflegedienst (Berufsanerkennung etc.) zu beschaffen. Doch dann kamen dessen Insolvenz und die schnelle Einstellung des Geschäftsbetriebs.

Recherchen des WA ergaben, dass besagte Tochterfirma daraufhin ebenfalls ihre Arbeit einstellte, zumindest vorerst. Für rund 60 türkische Pflegekräfte endete ihre Weiterbildung samt Vermittlungsverfahren urplötzlich. Ihr Problem: Den Preis dafür hatten sie schon vorher komplett bezahlt.

Teils Kredite aufgenommen

Und der war mit umgerechnet rund 3500 Euro nicht eben gering, gerade für türkische Verhältnisse. Einige Teilnehmer hätten Kredite dafür aufnehmen müssen, heißt es. Dem WA liegen Vertragsunterlagen zwischen dem Tochterunternehmen und einer Pflegekraft vor. Zum Gesamt-Beschäftigungspaket gehörte demnach auch ein One-way-Flugticket und eine befristete Unterbringung in einem Hotel direkt nach Ankunft in Deutschland.

In Istanbul hat die Tochterfirma ihren Sitz.
In Istanbul hat die Tochterfirma ihren Sitz. © Onur Dogman, dpa

Auch diese Hotels gehören zur Unternehmensgruppe. Ein solches befindet sich unter anderem in Werne; es ist nach Auskunft auf der Homepage derzeit geschlossen. Die Sprachschule in der Türkei – sie gehört ebenfalls zur Wertschöpfungskette.

Stillschweigen vereinbart

Die Unterlagen aus der Türkei dokumentieren, dass Teilnehmer bereits juristische Schritte eingeleitet haben, um zumindest einen Teil des Geldes zurückzubekommen. In einem Fall ist dem WA eine Einigung zwischen dem Unternehmen und einer Pflegekraft bekannt. Wie diese aussieht, bleibt unklar. Darüber sei Stillschweigen vereinbart worden, heißt es.

Auf Stillschweigen trifft man immer wieder auch auf deutscher Seite. „Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich aufgrund gesetzlicher Vorschriften Ihnen die gewünschten Auskünfte nicht erteilen kann“, teilte jüngst der Insolvenzverwalter unter anderem auf die Frage mit, welchen Einfluss die strafrechtlichen Vorwürfe gegen den De-facto-Geschäftsführer auf die Pleite des Pflegedienstes haben und hatten.

Wo ist das Geld?

Der Inhaftierte war nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft Dortmund zwar nicht der offizielle Entscheidungsträger im Bönener Unternehmen, soll es aber faktisch geführt und dann über Jahre hinweg gegenüber einer Krankenkasse falsch abgerechnet haben. Ein Schaden von knapp einer Million Euro steht im Raum. Die Ermittlungen dauern an.

Beobachter und nicht zuletzt die Gläubiger des Unternehmens fragen sich indes, wo das Geld geblieben ist und ob womöglich finanzielle Mittel aus dem Unternehmen abgeflossen sind. Und: Müsste der Insolvenzverwalter bei einem solchen Betrugsverdacht nicht auch mal nachhaken? „Ein Insolvenzverfahren ist ... nicht öffentlich; es läuft unter Kontrolle des Insolvenzgerichts ab und dient allein den Interessen der Gläubiger“, informierte er jüngst.

Verfahren vorläufig eingestellt

Warum ging der Bönener Pflegedienst pleite? Gab es kriminelle Machenschaften? Wie war das Klima im Unternehmen? Diese Fragen klären sich vielleicht erst im Zuge der Gläubigerversammlung Anfang Dezember und eines möglichen Betrugsprozesses. Zwar ist besagter De-facto-Geschäftsführer bereits angeklagt, aber erst einmal „nur“ wegen unerlaubten Waffenbesitzes – wobei dieses Verfahren angesichts des zu erwartenden und weitaus größeren Wirtschaftsprozesses mittlerweile vorläufig eingestellt wurde, wie das Amtsgericht Unna bestätigte.

„Da musst du hin“

Mit Blick auf die vor allem von Mitarbeitern beschriebenen unhaltbaren Zustände im Unternehmen könnte man meinen, die Pflegekräfte aus der Türkei sind durch die Insolvenz vor Schlimmerem bewahrt worden. Deutschland bleibt aber, auch wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage in der Türkei, ein Traumziel. „Ich war vor einigen Jahren für zwei Tage dort und es war toll, die Menschen glücklich zu sehen. Damals habe ich mir gesagt: Da musst du hin“, berichtet eine Pflegekraft.

Der Versuch, die Tochterfirma des Pflegedienstes um Stellungnahme zu bitten, schlug fehl. Es ist derzeit weder telefonisch noch per Kontaktformular auf seiner Homepage zu erreichen.

Hunderte Überstunden

Zu den Insolvenzgläubigern des Bönener Pflegedienstes zählen auch Mitarbeiter mit teils immensen Überstunden, für die sie noch kein Geld erhalten haben. Der WA berichtete jüngst über einen Mann, der auf die Entlohnung von knapp 850 Überstunden wartet – und das wohl umsonst, da im Fall des Pflegedienstes bereits Masseunzulänglichkeit angezeigt wurde und die Schlussverteilung wohl eher mager ausfallen dürfte.

Infolge der Berichterstattung meldete sich jetzt ein 49-jähriger Beschäftigter beim WA, der vor drei Jahren versucht hatte, den Lohn für Überstunden einzuklagen – und vor einem Arbeitsgericht zumindest einen Teilerfolg erzielte. Der Nachweis nicht honorierter Überstunden ist kompliziert, von den mehr als 500 bekam er etwa 280 ausbezahlt.

„Wurde übelst gemobbt“

„Im Anschluss daran wurde ich aber übelst gemobbt. Das Gehalt wurde mal pünktlich gezahlt, mal nicht“, berichtet der Altenpfleger. Und: In vier Jahren seien ihm gerade einmal zehn Tage Erholungsurlaub gewährt worden, obwohl er mit Schwerbehinderung auch Anspruch auf Sonderurlaub habe. Zudem habe sein Arbeitgeber ihn mehrmals versucht zu kündigen, erzählt der 49-Jährige. Erfolglos, denn das LWL-Integrationsamt habe seine Zustimmung verweigert.

Wie andere Beschäftigte, berichtet der 49-Jährige von Doppel- und Dreifachschichten, von unzureichend qualifizierten Kollegen, von Druck durch den Arbeitgeber und sogar „Angst vor Übergriffen“. Ihn habe das alles so sehr belastet, dass er seit längerer Zeit krankgeschrieben sei. Die tagelangen Abwesenheiten von zu Hause (bei Übernachtungen in Hotels) macht er auch für das Scheitern seiner Ehe verantwortlich.

Forderung: 33.000 Euro

Vor Kurzem hat der 49-Jährige nun doch die Kündigung bekommen, vom Insolvenzverwalter, zum Monatsende. Bis dahin ist er freigestellt. Seine Forderungen im Insolvenzverfahren belaufen sich auf knapp 33.000 Euro für entgangenen Lohn und Urlaubstage. Er glaubt nicht, dass er etwas von dem Geld sieht.

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