„Es war in dem Unternehmen völlig normal, so viele Stunden vor sich herzuschieben“, sagt der 62-Jährige. Schon kurz nach seinem Einstieg 2015 sei deren Zahl zügig nach oben gegangen – um auf hohem Niveau zu verharren. „Zwischenzeitlich lag sie sogar bei weit über 1000.“
Das Problem nun: Zwar sind die Überstunden in der wohl letzten Lohnabrechnung berücksichtigt; der Gesamt-Bruttolohn ist dadurch auch auf über 15.000 Euro angewachsen. Allerdings ist das Geld dafür nicht auf das Konto des Arbeitnehmers überwiesen worden. Offenbar, so vermutet der Betroffene nach der Kündigung, passiere das auch nicht mehr.
Ich ärgere mich über mich selbst, weil ich so gutgläubig war und zu allem Ja und Amen gesagt habe.
Seine Befürchtung ist nachvollziehbar. So ist wohl davon auszugehen, dass der Insolvenzverwalter alle vor der Insolvenzanmeldung angefallenen Überstunden als Forderungen wertet. Der 62-Jährige wäre somit nicht nur Mitarbeiter, sondern gleichzeitig Insolvenzgläubiger des Unternehmens – und diese dürften nach Anzeige von Masseunzulänglichkeit Mitte September leer ausgehen.
Die Anrechnung der Überstunden hatte der Teamleiter aktiv eingefordert. Als er dann nur etwa ein Viertel vom ausgewiesenen Netto-Verdienst erhielt (der WA konnte die Kontoauszüge einsehen), wollte er sich beim Insolvenzverwalter nach den Gründen dafür erkundigen. „Ich habe mehrfach dort angerufen, aber niemanden erreichen können.“
Der WA ließ dem Insolvenzverwalter Fragen zum konkreten Fall zukommen – ohne Antworten zu erhalten. Der 62-Jährige hatte derweil zeitnah mit seiner Kündigung eine „Aufforderung zur Anmeldung einer Forderung“ in der Post gehabt; ein Wink mit dem Zaunpfahl. Der Aufforderung will der Mann nachkommen. Hoffnung, das Geld noch zu bekommen, hat er indes nicht. Für den 1. Dezember ist die Gläubigerversammlung anberaumt.
„Ich hatte meinem Arbeitgeber vertraut“, sagt der Teamleiter. Auch, nachdem der Monatslohn Ende 2021 erstmals verspätet überwiesen worden sei. Und auch, nachdem es erste Gerüchte über eine drohende Pleite gegeben habe, die vom Arbeitgeber als unwahr zurückgewiesen worden seien. „Jetzt ärgere ich mich über mich selbst, weil ich so gutgläubig war und zu allem Ja und Amen gesagt habe.“
Er fühle sich „schamlos ausgenutzt“, betont der 62-Jährige. Warum er die Überstunden nicht frühzeitig abgefeiert oder sich hat auszahlen lassen? „Ich habe nicht damit gerechnet, dass diese große Firma den Bach runtergeht – und es war mir auch unangenehm, den Arbeitgeber auf das Thema anzusprechen.“ Am Ende sei man halt immer schlauer.
Der Mann hatte zuletzt vorwiegend in Bottrop gearbeitet und teils in Mülheim an der Ruhr. Die Überstunden seien aufgelaufen, weil es infolge von Personalmangel immer wieder auch zu verlängerten oder gar zu Doppelschichten gekommen sei. „Es gab Monate, da hatte ich gerade mal drei Tage frei.“
Kollegen hätten teils ein deutlich üppigeres Plus auf ihrem Zeitkonto gehabt, schildert der 62-Jährige. „Ich kenne keinen, der keine Überstunden hatte. Das ging hoch bis knapp 2000.“ Der Insolvenzverwalter schweigt auf Anfrage dazu, wie viel Mehrarbeit insgesamt finanziell zu verfallen droht.
Für den 62-Jährigen ist es nicht die erste Pleite eines Arbeitgebers. Er hatte zuvor bei einem privaten Rettungsdienst gearbeitet, der zahlungsunfähig wurde und überschuldet war. Nach der jüngsten Kündigung hat er sich arbeitslos gemeldet. Wie’s weitergeht? „Ich habe jetzt 45 Jahre lang gearbeitet und kann auch langsam an die Rente denken.“
Der Bönener Pflegedienst war ins Straucheln geraten, nachdem dessen De-facto-Geschäftsführer Anfang Juli verhaftet wurde. Jedenfalls geht die Staatsanwaltschaft Dortmund davon aus, dass der Mann der Entscheidungsträger im Unternehmen war. Sie wirft ihm Abrechnungsbetrug gegenüber einer Krankenkasse vor.
Laut Haftbefehl geht es um 54 Fälle zwischen 2016 und 2020. Der Schaden: knapp eine Million Euro. Die Ermittlungen dauern an. Der Insolvenzverwalter hat in der zurückliegenden Woche mitgeteilt, dass der Pflegedienst seinen Betrieb eingestellt hat. Nur fünf Mitarbeiter seien noch mit „Abwicklungsarbeiten“ betraut, hieß es.
Ob die Ermittlungen mit der Insolvenz in Verbindung stehen, diese die finanzielle Schieflage beschleunigt oder gar ausgelöst haben, bleibt unklar. Der Insolvenzverwalter hatte von einer „ungeordneten Unternehmenssituation“ gesprochen, geht aber auf Nachfrage auf die Vorwürfe oder die möglicherweise kriminellen Geschäftspraktiken nicht ein.