„Wir mussten einfach irgendwann die Notbremse ziehen. Anfang Januar haben wir den Bewohnern mitgeteilt, dass ein Auszug in den nächsten Wochen unabdingbar ist“, berichtet Elshoff. Für alle Bewohner habe man zwar gemeinsam eine adäquate Lösung finden können, für die Betroffenen war es dennoch bitter, ihr gewohntes Zuhause zu verlassen. „Zu diesem Zeitpunkt wohnten nur noch fünf der ursprünglich zwölf Pflegebedürftigen in unserer Einrichtung. Seit Spätsommer 2022 sind sechs Bewohner verstorben, ein Bewohner musste wegen mangelnder Kostendeckung bereits im November ausziehen.“
Pflegeheim oder Wohngemeinschaft? Pflegesituation im Kreis Unna und in Bönen
Wohngemeinschaften: Bei den Wohngemeinschaften unterscheidet man zwischen anbieterverantworteter WG (Elshoff), die der Heimgesetzgebung unterliegen, und selbstbestimmten WGs (Stracke). Pflegewohngemeinschaften sind rechtlich eine ambulante Betreuungsform, es gibt verschiedene Möglichkeiten abzurechnen. Bei der Abrechnung nach Betreuungspauschalen wird geprüft, welche Kosten geltend gemacht werden und die WTG-Behörde (früher Heimaufsicht) prüft, ob die Kosten betriebswirtschaftlich angemessen sind. Oder es wird nach Leistungskomplexen abgerechnet nach pflegerischem Bedarf. Gegenübergestellt wird dem: Was zahlt die Pflegekasse, welche Miet- und Nebenkosten fallen an, welches Einkommen und Vermögen ist vorhanden?
Seniorenheime: Bei der stationären Unterbringung im Seniorenheim werden mit dem Landschaftsverband und dem Verband der Pflegekassen Vergütungsvereinbarungen abgeschlossen. Auf dieser Basis wird auch eine mögliche Gewährung der Sozialhilfe beim Kreis Unna geprüft. Hier wird gerechnet, welche Kosten im Monat anfallen, was die Pflegekasse zahlt, wie hoch das Renteneinkommen ist und was gegebenenfalls der Sozialhilfeträger zahlt.
Das sagt der Kreis: „Die Kostenträger, die mit den Pflegeeinrichtungen aushandeln, wie teuer ein Platz und eine Pflegeleistung ist, verhandeln ein Jahr im voraus. Da sind die Teuerungen nicht enthalten“, sagt Hans Zakel, Sozialplaner beim Kreis Unna. „In der gesamten Pflegeszene herrscht zurzeit große Unsicherheit, ob in künftigen Verhandlungen Mehrkosten für Energie und Lebensmittel beispielsweise über den Pflegepreis wieder reingespielt werden können. Die privaten Kunden wie im Fall der Elshoff-WG werden jetzt mit einem höheren Preis konfrontiert und springen ab. Die Frage ist, wo bleiben die Menschen dann?“ Zakel hofft, dass das Aus der Bönener WG kein Trend wird, denn: Im Kreis ist jeder neunte Pflegeplatz in einer WG.
Pflegezahlen: Der Pflegebedarfsplan 2022 des Kreises Unna beruht auf Zahlen aus dem Jahr 2021, als die Nachfrage nach Heimplätzen coronabedingt zurückging. Im Kreis Unna gibt es 4285 Pflegeplätze (Stand 3/2022) und die Auslastung lag 2021 bei 94 Prozent, inzwischen ist sie wieder auf 98 Prozent angestiegen, so Zakel.
In Bönen war die Belegungsquote 2021 mit 92 Prozent sogar noch niedriger. Aktuell sind beide Seniorenheime ausgebucht. „Wir haben eine Warteliste“, bestätigt Ralf Degenhardt-Ruhoff, Leiter des Awo-Seniorenheims, das 84 Plätze bietet.
Auch in der Seniorenresidenz Bönen-Königsborn, die das Unternehmen Alloheim betreibt, sind alle 79 Plätze belegt. „Wir haben eine Warteliste“, bestätigt der Leiter Krystian Thomann. „Wir haben so viele Anfragen, wir könnten glatt noch eine Einrichtung daneben bauen.“ Auch die Pflegeheime müssen oft Wochen und Monate auf Finanzierungszusagen warten und vorfinanzieren. „Die Alloheim ist zwar ein großes Unternehmen, aber auch für uns wird es irgendwann eng“, sagt Thomann. „Von 79 Patienten, sind derzeit 30 auf Sozialhilfe angewiesen – zehn bis 15 Fälle sind noch ungeklärt – Tendenz steigend.“
Von ursprünglich 29 Plätzen in vier Bönener WGs bestehen jetzt noch 17 in drei Häusern der Pflegepraxis Stracke.
Ausschlaggebend waren die veränderten wirtschaftlichen Bedingungen. „Im Herbst mussten wir den Preis für die Betreuungspauschale anpassen, da der Gesetzgeber seit September 2022 die tarifähnliche Bezahlung vorgeschrieben hatte. Die Personalkosten sind sprunghaft angestiegen, die Kassen refinanzieren das aber nur zu einem kleinen Teil. Das hatte Auswirkungen auf die Pauschale“, fasst Svea-Christin Elshoff zusammen. „Problematisch wurde, dass sich nun die Finanzierung für einige Bewohner als schwierig herausstellte. Aber um kostendeckend – nicht mal gewinnbringend – die 24-Stunden Betreuung sicherzustellen, war eine Anhebung des Betrages notwendig.“ Die massiv angestiegenen Energiekosten seien am Ende noch die Kirsche auf der Torte gewesen.
„Ein Desaster – denn in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft zahlt man eine Miete, die Betreuungspauschale und die Pflegekosten. Man hat aber nur das Budget für die Pflege durch die Pflegesachleistung im ambulanten Bereich. Und dann gibt es noch einen Wohngruppenzuschlag von 214 Euro, aber die Betreuungspauschale kostet mittlerweile 2000 Euro im Monat“, rechnet sie vor. Insgesamt rund 3000 Euro seien nötig, um den Aufenthalt in einer solchen WG zu finanzieren. Das sei für viele Senioren gar nicht machbar.
Angekündigte Entlastungen durch den Gesetzgeber seien zwar für die stationäre und teilstationäre Pflege vorgesehen. „Hier wurden die Wohngemeinschaften schlichtweg vergessen“, kritisiert Svea-Christin Elshoff. Allgemein könne man sagen, dass Bewohner von ambulant betreuten Wohngemeinschaften im Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) einfach unberücksichtigt geblieben sind, so Elshoff. Die Folge davon sei nun die massive finanzielle Benachteiligung gegenüber stationären Einrichtungen. „Die im GVWG politisch gewollte und notwendige finanzielle Entlastung in der Langzeitpflege kommt leider ausschließlich der stationären Pflege zu Gute.“
Dass die privaten Anbieter von Wohngemeinschaften zu kämpfen haben durch die Anhebung des Tariflohnes und explodierende Kosten, bestätigt auch Timo Stracke, Pflegedienstleiter in der Bönener Pflegepraxis Anita Stracke, die drei selbstbestimmte WGs mit insgesamt 17 Plätzen in der Gemeinde betreibt. Ein anderes Konzept, aber ähnliche Probleme.
„Eine Anpassung des Tariflohns ist einerseits begrüßenswert, andererseits werden wir vom Gesetzgeber mit den Kosten alleingelassen, weil die nicht eins zu eins übernommen werden. Wenn ich eine 30-prozentige Lohnsteigerung bekomme, aber nur ein Angebot von den Kassen für eine 20-prozentige Refinanzierung, bleibe ich als Pflegeunternehmen auf dem Rest sitzen“, kritisiert er. Letztlich müsse er die Kosten an seine Kunden weitergeben.
Aber auch Heimplätze würden immer teurer, beobachtet Elshoff. „Prognosen sagen voraus, dass in diesem Jahr jeder zweite Heimbewohner von Sozialhilfe leben wird. Das System steht kurz vorm Kollaps, wir brauchen dringend eine Reform.“ Mit der neuen Betreuungspauschale sei es nicht möglich gewesen, neue Bewohner zu finden. „Wir haben zig Besichtigungen gehabt, haben sehr viel Akquise betrieben – leider erfolglos. Das Konzept der betreuten WG ist zu teuer geworden.“
Die Kostenübernahme durch das Sozialamt sei ebenfalls schwierig. Die Bescheidung eines Antrages dauere, so ihre Erfahrungen im Kreis Unna, mittlerweile zwischen sechs und neun Monate. „Diesen Zeitraum müssen, laut Sozialamt, wir als Einrichtung vorfinanzieren. Leider können wir als mittelständisches Familienunternehmen solche Summen nicht für mehrere Bewohner vorfinanzieren.“
Mit diesem Dilemma stehe sie nicht allein da. „Viele meiner Kollegen berichten auch von Schließungen anbieterverantworteter Wohngemeinschaften. Die Finanzierung ist derzeit schwierig zu stemmen. Wir haben geguckt, wo man noch Geld einsparen kann, aber letztlich kann das nicht zu Lasten der Qualität oder der Arbeitnehmer gehen.“
Tatsächlich sei das Angebot nicht an fehlendem Personal gescheitert, betont Elshoff. Das war mit zeitweise 14 Mitarbeitern ausreichend vorhanden. Pflegerisches Personal konnte in den ambulanten Pflegedienst übernommen werden. „Um die Arbeitsplätze in den anderen Bereichen unseres Unternehmers zu schützen, mussten wir letztlich die Einrichtung schließen. Wir haben in den letzten Monaten viel Geld in die Einrichtung gesteckt und alles versucht, um es zu schaffen. Leider sind unsere finanziellen Reserven aufgebraucht und wir mussten die Notbremse ziehen.“
Zur Weiternutzung der 640-Quadratmeter-Immobilie auf zwei Etagen kann Svea-Christin Elshoff zum jetzigen Stand noch nichts Konkretes sagen. „Wir haben einen langfristigen Mietvertrag, der noch noch über drei Jahre läuft, und müssen schauen, was möglich ist. Hier sind wir im regen Austausch mit der Vermieterin.“