Helle, quadratische Pflastersteine grenzen den Gehweg von der Bushaltestelle am Bahnhofsvorplatz ab. Ihre Oberfläche hat Noppen oder Rillen. Sie helfen Blinden und Sehbehinderten, sich zu orientieren. Mit dem Stock können sie diese sogenannten Bodenleitsysteme ertasten. Die Rillen geben die Richtung an, die Noppen weisen auf Hindernisse und Abzweigungen hin, markieren Einstiege und Grenzen, etwa zur Fahrbahn oder zum Bahngleis.
Rheuma, eine Entzündung im Augeninneren oder Riesenzellarteriitis, eine chronische Entzündung der großen und mittleren Arterien in Kopf: Drei Diagnosen hat Michael Tuchel bekommen. Das sind drei Versuche, zu erklären, warum der Lenningser von jetzt auf gleich erblindet ist. Was genau davon zutrifft, ist noch immer nicht geklärt. Fest steht aber, dass er sein Augenlicht unwiederbringlich verloren hat. Angefangen hat alles mit rasenden Kopfschmerzen, wie er berichtet. Er ging von Arzt zu Arzt, wurde komplett auf den Kopf gestellt – ohne Befund. Der Augenarzt überwies ihn schließlich in die Augenklinik. Nachdem er an einem Freitag im Februar 2019 dort intensiv untersucht wurde, fuhr er nach Hause. Er sollte am Montag stationär aufgenommen werden. Daheim legte er sich nach dem Abendessen aufs Sofa. Dann wurde es dunkel. Mithilfe verschiedener Trainings musste er in den vergangenen Jahren lernen, mit seiner Behinderung zu leben.
Schade nur, dass viele Menschen ihre Bedeutung nicht kennen. „Vielen denken, die Pflastersteine seien dafür da, dass es schöner aussieht“, hat Michael Tuchel festgestellt. In den Innenstädten sollen die Leitsysteme dabei beispielsweise Blinden den Weg in die Geschäfte weisen. Doch häufig werden sie mit Tischen und Stühlen, Aufstellern, Blumenkübeln oder Ähnlichem zugestellt. „Selbst die Busfahrer wissen oft nicht, wofür sie da sind“, erzählt Tuchel. Eigentlich sollen sie ihr Fahrzeug nämlich so an die Haltestelle lenken, dass die Tür an einem Quadrat aus Noppenplatten, stehen bleibt. „Das ist meistens nicht der Fall. Dann muss ich mich mit der Hand am Bus entlangtasten, bis ich die Tür gefunden haben. Bei schlechtem Wetter ist das nicht so toll, der Bus ist dann nass und dreckig.“
Das ist allerdings eher ein kleines Problem für ihn, wenn er die Gemeindemitte alleine besucht. Nur an zwei Stellen gibt es in Bönen zum Beispiel Leitstreifen und Aufmerksamkeitsfelder. Außer am Bahnhof sind sie an der Bushaltestelle und Fußgängerampel gegenüber der Goetheschule zu finden. Ansonsten muss Tuchel wortwörtlich im Blindflug durch den Ort.
Das fängt bei der Ankunft an. Blinde, die in Bönen aus dem Zug steigen, bekommen keinerlei Hinweise darauf, in welche Richtung sich der Ausgang des Bahnhofs befindet. Kommen sie aus Unna, müssen sie außerdem zunächst den Eingang zur Unterführung finden. „Und am Wochenende ist das Gebäude abgeschlossen. Dann muss man an der Radstation entlang“, kennt Tuchel weitere Tücken des Bahnhofs. Ortsfremde haben dieses Wissen nicht. Sie sind auf Hilfe angewiesen.
Apropos Hilfe: Ist die eigentlich gewünscht? Ungefragt eher nicht. Dass Fremde ihn plötzlich anfassen und über die Straße „schieben“, möchte Tuchel nicht. Manche Situationen sind hingegen schwierig für ihn, Einkaufen etwa. Dann freut er sich über Unterstützung. „Alleine einkaufen gehe ich nur selten. Ich muss ja immer fragen, wo alles ist.“ Dass die Supermärkte alle paar Monate ihr Sortiment umräumen, macht die Sache nicht einfacher.
Der Lenningser kommt hin und wieder mit dem Bus in Bönen an. Direkt an der Haltestelle am Bahnhof befindet sich eine „Bus.Hör.Stelle“ der VKU. Unter der digitalen Anzeige wird dort auf Knopfdruck der Fahrplan angesagt. „Das ist gut“, freut sich Tuchel. Danach ist er auf sich gestellt. „Versuchen Sie Mal, blind die Querungshilfe zu finden, wenn Sie am Bahnhof aussteigen“, sagt er. Die Fahrbahn ist extra breit, der Weg über die Straße also lang. Markierungen, die zur Mittelinsel führen, gibt es nicht, ebenso wenig wie einen Zebrastreifen. Es ist eher Zufall, die Insel zu finden. Wer nichts sieht, muss darauf vertrauen, auf die andere Straßenseite zu kommen, ohne überfahren zu werden, wenn er ins Rathaus oder zu Lidl will. Das gilt genauso für das Überqueren der Bahnhofstraße vor der Schranke. Immerhin ist dort eine Augenarztpraxis ansässig.
Tuchel möchte dagegen in die Fußgängerzone. Er kann zunächst auf dieser Straßenseite bleiben, muss jedoch über den Bahnübergang. Die Abgrenzung zur Fahrbahn ist dort nur aufgemalt. Das hilft ihm nicht. Mit seinem Langstock tastet er sich zwischen Straße und Gleisbett entlang. Ein Schritt zu weit nach rechts, und er stünde auf den Schienen. Geht er zu weit links, marschiert er auf der Fahrbahn. Tuchel hält sich mittig. Aber: Der Gehweg ist zugleich ein Radweg. Getrennt sind beide Bereiche nur optisch durch unterschiedliche Pflasterfarben. Die sieht er natürlich nicht, weiß aber aus Erfahrung, dass der Fußgängerstreifen links liegt. Trotzdem muss er sich rechts halten – er will den Zebrastreifen finden. Wieder fehlt ein Leitsystem.
Mit dem Stock klopft der 63-Jährige an der Bordsteinkante entlang, bis sich die Lücke auftut. Zum Glück sind gerade keine Radfahrer unterwegs. Mit denen musste er sich schon häufiger auseinandersetzen – auch in der Fußgängerzone. „Da bin ich ein paar Mal mit Radfahrern kollidiert“, berichtet er. Statt sich bei ihm zu entschuldigen, wären einige dann ungehalten gewesen. Das kennt der Lenningser ebenso aus seinem Dorf. Gern geht er auf dem Alleenradweg spazieren – wenn da nicht die vielen Radler wären. Die gut ausgebaute Strecke ist beliebt bei flotten Radsportler und motorisierten Senioren. Rücksicht sei nicht unbedingt deren Stärke, hat Tuchel festgesellt. „Einer hat mich mal gefragt, was ich auf dem Weg zu suchen hätte.“
Er hält sich mittlerweile links, entgegen der vorgesehenen Richtung. So könnten ihn die entgegenkommenden Radler von vorne sehen. Mit seiner auffälligen Weste, der Blindenarmbinde und dem Stock sollte er gut zu erkennen sein. Dennoch: Neulich war er in einen Unfall verwickelt. „Von vorne kam eine Gruppe Radfahrer, von hinten ein einzelner. Der ist aber nicht stehen geblieben, sondern so eng an mir vorbei gefahren, dass er meine Schulter gestreift hat. Das hat ihn wohl ins Straucheln gebracht. Er ist mitten in die Gruppe hineingefahren und gestürzt.“
Kleine Unfälle passieren dem Familienvater selbst immer mal wieder. Regelmäßig läuft er in Tische und Stühle hinein, wenn die in der Fußgängerzone aufgestellt werden. Die Leute würden darauf teils heftig reagieren und ihn anfahren, so der Versorgungstechnikingenieur. „Beliebt“ seien zudem Aufsteller, die Geschäftsinhaber auf den Weg vor ihren Läden stellen. Seine Schienbeine haben schon mit etlichen davon Bekanntschaft gemacht.
„Manchmal stehen auch Autos, Roller oder Fahrräder in der Fußgängerzone. Da rechnet man nicht mit.“ Zu tief hängende Wahlplakate seien eine weitere Gefahr – Tuchel hat sich den Kopf gestoßen –, unebene Straßenbeläge oder Treppenstufen Stolperfallen. Vor dem Rewe-Markt ist er gestürzt, weil für ihn die Höhe der Stufen für ihn nicht erkennbar war. Und das neue Treppengeländer dort sei zwar prima, nur leider nicht direkt an der Kante installiert worden. Wer blind von oben kommend rechts ans Metall greift, hat einen schmalen Abstieg unter den Füßen. Und wer dann ein paar Zentimeter daneben tritt, kann schnell stürzen.
Noch schwieriger ist es für Blinde, die sich vor Ort nicht auskennen. Laufen sie zwischen den Pfosten hindurch, könnten sie ruckzuck im Gemeindeteich landen, befürchtet Tuchel. Eine Abgrenzung oder Aufmerksamkeitsfelder gibt es an dieser Stelle nicht. Überhaupt sei vieles in Bönen gut gemeint, aber schlecht umgesetzt, findet er. Die Fußgängerampel an der Oststraße sei ein Beispiel dafür. Um zu ihr zu gelangen, muss er durch den Park. Geht es danach rechts oder links zur Ampel? Auch dort fehlen die Hinweise.
Die Bushaltestelle ist dann wenigstens mit den gerillten Leitstreifen gekennzeichnet. Das Quadrat als Haltepunkt für die Bustür fehlt gleichwohl. Tuchel greift unter den Anforderungsknopf der Lichtzeichenanlage. „Hier ist ein Pfeil zu fühlen, der angibt, in welche Richtung ich über die Ampel gehen muss. Es fehlt aber der Punkt. Der würde anzeigen, dass es eine Mittelinsel gibt, wie es hier der Fall ist.“ Er drückt auf den Taster. „Die Ampel muss nach drei Sekunden auf Grün springen, wenn sie kein akustisches Signal hat.“ Tatsächlich, das passt! In anderen Kommunen gibt es Ampeln, die akustische oder Vibrationssignale geben oder sogar über Lautsprecher verfügen. Das ist natürlich optimal, bei den verschiedenen Systemen weiß ein Blinder jedoch nie, was ihn in einer fremden Stadt erwartet.
Auf der anderen Straßenseite geht es weiter Richtung Hallenbad. Der Lenningser schwimmt gerne. Für den sportlichen 63-Jährigen ist die Bönener Einrichtung hingegen nicht besonders gut geeignet. Behindertengerechte Umkleiden gibt es dort nicht, darüber hinaus er muss sich ins ohne Hilfsmittel ins Becken tasten. „Eventuell lande ich stattdessen in der Frauenumkleide“, sagt er. Der folgende Aufschrei würde ihm zumindest sagten, dass er falsch ist, scherzt Tuchel. Im Solebad Werne sei das anders, kennt er ein positiveres Beispiel. Dort gebe es Behindertenkabinen mit eigenen Toiletten und Duschen. „Und einer Griffkante, die mich ins Wasser führt.“
Im Becken trägt er eine gelbe Badekappe mit drei schwarzen Punkten, das typische Blindenzeichen. „Cool, BVB“, hat das neulich ein Badegast kommentiert. „Gerade junge Leute kennen das Symbol oft nicht.“ Tuchel nimmt’s mit Humor. „Ohne den geht es nicht.“ Bei ihm und seiner Frau sei der tiefschwarz gefärbt. Deshalb kann er auch lachen, als er erfährt, dass der Busfahrer ihn durchwinkt. In Begleitung geht er an der Ausfahrt des Kaufhausparkplatzes vorbei Richtung Bahnhof. Dass hier eine Ausfahrt ist, kann er ohne Leitsystem nur ahnen. „Ich höre, ob da Autos sind oder nicht“, schildert er. Leicht sei das nicht, bei dem Verkehrslärm.
Tuchel hofft, dass der angekündigte barrierefreie Ausbau des Bahnhofs, seines Umfeldes, der Bahnhofsstraße und der Fußgängerzone sein Leben einfacher machen. Unbedingt müssten die erforderlichen Leitsysteme verlegt werden, wünscht er sich.
Am einfachsten ist es für ihn zu Hause. Dort hat alles seinen festen Platz, im Schrank ist die Kleidung farblich sortiert. „Im Badezimmer stehen meine Sachen im Schrank und seine draußen, nachdem er sich mit meiner Gesichtscreme und meiner Zahnbürste die Zähne geputzt hat“, erzählt Petra Tuchel. „Wer uns besucht, merkt wahrscheinlich nicht, dass mein Mann blind ist.“