Sie haben zunächst die Facharztausbildung zur Chirurgin absolviert und im Krankenhaus gearbeitet. Was hat Sie zur Allgemeinmedizin gebracht?
Die ersten Gedanken in diese Richtung, kamen mir während der Schwangerschaft. Nach der Geburt meiner Tochter ist der Beschluss entstanden, die Fachrichtung zu wechseln und die Arbeitsbedingungen des Krankenhauses gegen einen geregelteren Arbeitsalltag zu tauschen.
War der Wechsel sofort mit der Idee verbunden, in eine Hausarztpraxis zu gehen?
Ja, das war schon der Gedanke. Allgemeinmedizin im Krankenhaus konnte ich mir nicht vorstellen. Ich wollte immer Medizin nach meinen Vorstellungen machen, Medizin, die ich mit meinem Gewissen vereinbaren kann. Derzeit bin ich noch in der Phase, meine Patienten kennenzulernen. Leider kommt es hin und wieder noch vor, dass ich die Namen meiner Patienten verwechsele. Das hängt auch damit zusammen, dass mein Fokus während der Gespräche auf der Behandlung der Patienten liegt. Das wurde mir lange Zeit als Fehler angemerkt. Doch dann hat mir mein ehemaliger Chef gesagt, dass man nur Patienten „mit nach Hause nimmt“, wenn man ein schlechtes Gewissen hat.
Immer weniger junge Ärzte zieht es wie Sie in die Hausarztpraxen. Woran liegt das?
Als Quereinsteiger im Bereich der Allgemeinmedizin ist man im Verhältnis zum Ausbildungsstand unterbezahlt. Im Krankenhaus wird man nach Tarif bezahlt, in den Niederlassungen bekommt man oft nur eine Stelle, wenn diese vom Staat gefördert wird. Diese Förderung ist dann auch das, was man den Ärzten bezahlt. Bei mir war das ungefähr 1500 Euro unter dem Tarifgehalt. Und man ist ‘Mädchen’ für alles. Man muss zum Beispiel die Hausbesuche machen. Dabei sind Quereinsteiger oftmals höher ausgebildet als deren Ausbilder.
Was macht für Sie die Arbeit als Hausärztin aus?
Man muss das gesamte Wissen, das man im Studium erlangt hat, anwenden. Es kann jemand mit Ohrenschmerzen kommen, da muss ich wissen, was es sein könnte. Genauso muss ich wissen, wie ich einen Patienten mit Bauchschmerzen behandele. Manchmal behandelt man die ganze Familie und bekommt Einblicke in die familiäre Situation. Man lernt die Patienten ganz anders kennen, viel intensiver. Wir hatten in der Praxis neulich Kuchen über. Da habe ich bei einem Patienten geklingelt, der in der Nähe wohnt, und ihn gefragt, ob er ihn haben möchte. So etwas wäre in der Klinik gar nicht möglich. Der Landarzt, bei dem ich gearbeitet habe, hat mir aber mal gesagt: Wenn man die Menschlichkeit verliert, hat man in unserem Beruf nichts mehr zu suchen.
Das ist ein weiser Rat. Gab es noch mehr davon?
Ich habe sehr viele Ratschläge erhalten. Zum Beispiel, dass man den Patienten nicht mit nach Hause nimmt, wenn man seine Arbeit gut macht. Ein anderer lautete: Mit seinem Diplom bekommt man einen Friedhof geschenkt. Den sollte man nicht voll machen.
Das klingt ziemlich makaber. Hilft die Einstellung?
In der Situation, als ich das gehört habe, schon. Da wurde nämlich aufgrund der im Krankenhaus herrschenden Hierachie ein Patient nicht so behandelt, wie er hätte behandelt werden können. Auch deshalb wollte ich Hausärztin werden: Ich bin mein eigener Chef und kann Medizin so machen, wie ich es möchte.
Dafür mussten Sie eine zweijährige Weiterbildung in Kauf nehmen. Wie sind Sie danach nach Bönen gekommen?
Es war eine Praxis im Kreis Unna und eine in Gelsenkirchen ausgeschrieben. Ich habe dann nachts um 3 Uhr E-Mails an beide geschrieben. Herr Wimpelberg hat mir sehr schnell geantwortet und mir die Praxis gezeigt. Als er mir den OP-Raum zeigen wollte, stand für mich bereits fest , seine Praxis übernehmen zu wollen. Ich wollte schon vor zehn Jahren in Bönen ein Haus kaufen. Dabei war ich vorher noch nie hier, ich bin immer nur vorbeigefahren. Aber ich habe gedacht: Bönen hört sich gut an. Hier kaufe ich ein Haus.
Haben Sie mittlerweile eins gefunden?
Nein, noch nicht. Ich muss erstmal Geld dafür verdienen. Außerdem fühlt sich meine Tochter dort, wo sie jetzt ist – in Dortmund – sehr wohl. Ich höre mich aber um, vielleicht finde ich erstmal etwas zur Miete.
Das würde Ihnen den langen Arbeitsweg ersparen. Als Hausärztin haben Sie wahrscheinlich selten pünktlich Feierabend ...
Ich versuche es. Wir haben die Praxiszeiten verkürzt, von 17.30 auf 16.30 Uhr. Aber ich bin natürlich immer noch länger hier, rufe Patienten an und schaue mir Befunde an. Im Durschnitt bin ich um 17.45 bis 18 Uhr zu Hause.
Dann ist der Beruf wohl recht schwer mit einer Familie zu vereinbaren?
Hausarzt ist kein Beruf, den man gut mit Familie unter einen Hut bekommt. Es ist sicher einfacher, wenn man einen Partner hat. Als Alleinerziehende ist es jedoch schwer. Ich werde etwa auch zu Nachtdiensten eingetragen. Einmal habe ich bei der Kassenärztlichen Vereinigungen angerufen und gesagt, dass ich in der Nacht niemanden habe, der meine fünfjährige Tochter nimmt. Ich müsste den Dienst trotzdem machen, hieß es. Ich hätte ja die Möglichkeit, jemanden dafür zu bezahlen, dass er ihn übernimmt. Doch den muss man erstmal finden.
Was sind das für Dienste?
Es sind Fahrdienste für den hausärztlichen Notdienst oder Dienste in einer Notfallpraxis, auch nachts. Der Nachtdienst fängt um 16 Uhr an und geht bis 8 Uhr am nächsten Morgen. Davor und danach habe ich normale Praxissprechstunde. Ruhezeiten, die sonst jedem Arbeitnehmer gesetzlich zustehen, haben wir nicht.
Was würden Sie sich für eine bessere Vereinbarkeit wünschen?
Dass man Ausnahmen wegen der Kinderbetreuung akzeptiert und ich mir bei den Diensten eine Auszeit nehmen könnte. Oder dass eine Kinderbetreuung in der Notfallklinik angeboten wird. Im Krankenhaus müsste ich als alleinerziehende Mutter jedenfalls keine Nachtdienste übernehmen. Ich habe viele Freundinnen, die in Kliniken arbeiten, und das mit ihren Arbeitgebern so vereinbaren können.
Glauben Sie, dass auch das ein Grund ist, warum es so wenig Nachwuchs bei den Hausärzten gibt?
Nein, ich denke, es ist eher die Bezahlung.
Ließen sich mit einer höheren Bezahlung mehr Ärzte für die Hausarztpraxis motivieren?
Ja, das denke ich. Für meine Freunde, die als Chirurgen in der Klinik arbeiten, ist meine Entscheidung nicht nachvollziehbar. In ihren Augen ist es ein Rückschritt. Ich kann mich aber an einen Freitagnachmittag erinnern, an dem mich ein Kollege anrief und mir erzählte, dass er jetzt in eine Abdominoplastik-OP gehe. Das ist meine Lieblingsoperationen. Da habe ich ihm gesagt: „Ich gehe jetzt nach Hause. Schönen Nachmittag noch!“
Es gibt also Vorteile?
Natürlich. Ich kann selbst bestimmen, wann ich Urlaub mache und habe alle Feiertage frei. Mit den Kollegen in Bönen ist die Zusammenarbeit zudem sehr gut, sodass man auch mal kurzfristig einen Nachmittag lang vertreten wird, wenn es notwendig ist.
Ist das das Positive an einer Praxis in einem kleineren Ort wie Bönen?
Ja, auf jeden Fall. Für mich stand immer fest, dass ich in einen kleinen Ort ziehen werde.
Das ist nicht selbstverständlich. Gerade in ländlichen Regionen ist der Hausärztemangel hoch. Ist das ein Trend?
Schon, aber ich habe auch viele Freunde, die auf dem Dorf arbeiten. Eine Freundin von mir in Thüringen hat zum Beispiel ihre Ausbildung bei ihrem Hausarzt gemacht. Sie hat die Praxis und das Wohnhaus geschenkt bekommen, damit sie bleibt.
Haben Sie den Schritt bereut?
Nein. Es gibt zwar manches Ärgernis, vor allem mit der Bürokratie. Man muss viele Anträge ausfüllen, die ganze Dokumentation erledigen. Ich mache mehr Dokumentation als Patientenarbeit. Deshalb habe ich kürzlich einen Praxismanager eingestellt, der mir in dieser Richtung ein wenig den Rücken freihält. Und ich habe ein Team, das mich sehr unterstützt.
Könnten gesetzliche Regeln helfen, den Beruf attraktiver zu machen?
Das denke ich nicht. Es gib ja Stipendien, damit junge Mediziner sich dafür entscheiden. Aber ich glaube nicht, dass die Zahl dadurch tatsächlich steigt. Man lernt leider oft erst während des Studiums die eigenen Schwächen und Stärken kennen, und stellt fest, dass etwas doch nicht so ist, wie man es sich vorgestellt hat. Sich vorher festzulegen, um das Stipendium zu bekommen, ist schwierig. Ich denke, es ist die Bezahlung, die entscheidend ist. Ich kenne top ausgebildete Kollegen, die den Quereinstieg gemacht haben. Für sie ist das ein finanzieller Rückschritt um 60 Prozent. Bei mir war das ähnlich.
Wie setzt sich Ihr Einkommen zusammen?
Wir werden pro Patienten mit einer Pauschale bezahlt, egal was dieser hat. Der Patient könnte theoretisch jeden Tag kommen. Es gibt eine Pauschale erster Kontakt, zweiter Kontakt und dann Folgegespräch. Zu viele Folgegespräche dürfen wir jedoch nicht abrechnen, weil die vom Honorar abgezogen werden. Und was man im ersten Quartal erwirtschaftet, bekommt man erst neun Monate später ausgezahlt, weil wir mit der Kassenärztlichen Vereinigung abrechnen und die dann mit den Krankenkassen.
Es geht nicht darum, wie aufwendig eine Behandlung ist?
Es gibt eine Ziffer, die nennt sich „Problemorientiertes Gespräch“. Dafür gibt es ein bisschen mehr. Das kann man natürlich nicht bei jedem Patienten abrechnen, dafür gibt es Kriterien.
Sie haben Kosten, Miete für die Praxis zum Beispiel oder fürs Personal. Rechnet sich das überhaupt?
Einige Kollegen von mir, die den Quereinstieg gemacht haben, sind wieder zurück in die Chirurgie gegangen, weil sie den Wechsel als Fehler empfunden haben. Vor allem das Finanzielle war ein Problem für sie. Natürlich: Miete muss man zahlen, die Angestellten ebenfalls. Aber ich wusste vorher, worauf ich mich einlasse. Geld ist nicht alles. Ich bin hier sehr gut aufgenommen worden, sowohl von den Kolleginnen als auch von den Patienten. Wir sind ein super Team und ich bin froh, dass ich es gemacht habe.
Luisa Urrutia Rojas hat im Juli 2022 die Praxis von Dr. Jürgen Wimpelberg in Bönen übernommen. Die Mutter einer fünfjährigen Tochter wohnt in Dortmund. Dort ist sie auch aufgewachsen, nachdem ihre Eltern 1983 mit ihr vor der Militärdiktatur Pinochets aus ihrem Heimatland Chile nach Deutschland flohen. Nach dem Abitur studierte sie in Jena Medizin und absolvierte Praktika unter anderem in Hannover, Lübeck, Saalfelden und bei einem Landarzt in Weißensee in Sachsen. Für ihre fachärztliche Ausbildung im Bereich Allgemeine Chirurgie ging sie an eine Klinik in Lütgendortmund und schloss eine weitere Facharztausbildung in der Plastischen Chirurgie an. Während ihrer Schwangerschaft entschloss sich Luisa Urrutia Rojas zum Wechsel in die Allgemeinmedizin.