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„Kann man nicht in Worte fassen“: Bestatter half, Tote im Erdbebengebiet zu bergen

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Von: Kira Presch

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Helfer von Deathcare in den Trümmern von Kahramanmaras
Helfer von Deathcare suchen in den Trümmern nach Leichen: Die Stadt Kahramanmaras ist nach dem verheerenden Erdbeben ein Meer von Schutt, wo vorher Wohnhäuser standen. Noch immer liegen viele Tote unter den Trümmern, die erst nach und nach geborgen werden können. © Martin Schulte

Ein Bestatter half mit dem Verein Deathcare, die Toten aus den Trümmern im Erdbebengebiet zu bergen. Ein Einsatz, der die Profis an ihre Grenzen brachte.

Bönen/Kahramanmaras – Dass es kein leichter Einsatz werden würde, das war Martin Schulte vor Antritt seiner Reise in das türkische Erdbebengebiet bewusst. Dass die Auswirkungen der Katastrophe aber so verheerend sein würden, dass sie auch ihn an seine Grenzen bringen, damit hatte der Bönener Bestatter nicht gerechnet.

Als Mitglied des Vereins Deathcare war er zehn Tage nach dem schrecklichen Erdbeben, das eine ganze Region in der Größe von NRW ausgelöscht hat, vor Ort in der Stadt Kahramanmaras, um den Hilfskräften bei der Bergung der Leichen zu helfen. „Wir sind Profis und den Umgang mit Toten gewohnt, aber das übersteigt alles, was wir uns vorstellen konnten“, sagt er.

„Kann man nicht in Worte fassen“: Bestatter aus Bönen half, Tote im Erdbebengebiet zu bergen

Eine erste Gruppe mit 16 Helfern der Hilfsorganisation Deathcare war bereits kurz nach dem Beben in Kahramanmaras, 100 Kilometer nördlich der syrischen Grenze, dem Epizentrum, eingetroffen, um bei der Bergung der Toten zu helfen. Am 16. Februar löste der Bönener Bestatter mit elf Kollegen aus ganz Deutschland die erste Gruppe ab. „Wir flogen mit unserem Equipment von Frankfurt nach Istanbul und weiter direkt nach Kahramanmaras, die Rollbahn des Flughafens ist zum Glück noch intakt“, erzählt Martin Schulte.

Martin Schulte (rechts) vor den Resten eines Hochhauses
Martin Schulte vor den Resten eines Hochhauses. © Martin Schulte

Die Stadt liegt in Trümmern

Was er dann auf der Fahrt durch die Stadt zu sehen bekommt, übersteigt alle Erwartungen, für die man sich wappnen kann. „Alles war zerstört, ganze Hochhäuser waren zusammengefallen, buchstäblich weg“, schildert er seine Eindrücke. „Wo Häuser stehen geblieben sind, ragen sie wie Ruinen aus den Trümmerbergen, denn Risse und Absenkungen zeigen, wohnen kann hier niemand mehr – akute Einsturzgefahr. Die Überlebenden campieren notdürftig in Zelten und bauen sich aus Planen Schutzhütten. „Viele bleiben vor Ort, um ihre toten Angehörigen zu finden und bei der Identifizierung zu helfen. Für die Hoffnung, noch jemand lebend zu bergen, ist es längst zu spät. Aber Tausende Tote warten in den Schuttbergen und in den Gebäuden und Kellern noch auf ihre Bergung. Dafür sind Martin Schulte und seine Teamkollegen von Deathcare vor Ort.

Deathcare Embalmingteam – eine einzigartige Hilfsorganisation

Der Verein Deathcare Embalmingteam ist eine auf der Welt einzigartige humanitäre, ehrenamtliche Hilfsorganisation, in der sich Bestatter, Thanatopraktiker, Mediziner, Forensiker und Psychologen zusammengeschlossen haben, um bei Katastropheneinsätzen ihre kompetente Hilfe weltweit direkt vor Ort anzubieten. Sie stellen ihre Expertise zur Verfügung, um die würdevolle und professionelle Versorgung verstorbener Menschen sowie den sensiblen und respektvollen Umgang mit den trauernden Hinterbliebenen zu gewährleisten. Mit ihrer Unterstützung wollen die Deathcare-Mitglieder die Rettungskräfte vor Ort entlasten.

Sie unterstützen bei der Bergung der Opfer, Desinfektion und Konservierung (Embalming) sowie Rekonstruktion und Identifikation der Opfer, beraten bezüglich Hygiene, Aufbewahrung und Transport der Verstorbenen und der Planung von Massengräbern. Zwei Gruppen mit insgesamt 28 Helfern waren jetzt im Erdbebengebiet in Kahramanmaras im Einsatz. Bisher waren die Mitglieder bei Katastrophen in der Türkei, in Taiwan, Thailand und Frankreich im Einsatz.

Gegründet wurde die Hilfsorganisation 2005 und hat aktuell über 70 aktive Mitglieder. Die Organisation finanziert sich über Spenden. Infos: www.deathcare.de.

„Mittlerweile spricht man von über 50.000 Opfern, Genaues weiß niemand, wahrscheinlich ist die Zahl noch viel höher, weil manche Dörfer immer noch abgeschlossen und auf sich gestellt sind“, vermutet Schulte. Die Überlebenden harren aus vor den Schuttbergen, wo ihre Angehörigen gewohnt haben und nachts von dem Beben im Schlaf überrascht wurden. Sie hatten keine Chance zu entkommen. Mit Farbe haben Überlebende Markierungen an die Häuser gesprüht, um den Helfern den Weg zu weisen, wo Tote vermutet werden.

Die Bilder machen allen zu schaffen

Jeden einzelnen Körper – oder was noch davon übrig ist – behutsam freizulegen, das ist die Aufgabe des Deathcare-Teams. „Überall arbeiten sich riesige Bagger ganz vorsichtig durch die Schuttberge“, erklärt Martin Schulte die Vorgehensweise. „Wenn wir einen Toten entdecken, legen wir ihn frei. Die Bauarbeiter und Helfer sind jedes Mal sehr dankbar, dass sie das nicht machen müssen, sondern wir das übernehmen.“ Selbst für die Profis geht das an die Grenzen, denn es ist zwar kalt, das hält den Verwesungsprozess etwas auf, dennoch sind die Körper seit Tagen verschüttet. Die Bilder machen allen zu schaffen, aber es muss getan werden.

Deathcare-Helfer kümmert sich um Leichen in der Sporthalle
Deathcare-Helfer kümmern sich um die Leichen in der Sporthalle, direkt nebenan ist ihr Nachtlager. © Deathcare

Sporthalle zentraler Sammelort

Anschließend werden die Toten in die Sporthalle, den zentralen Sammelort, gebracht. Dort sind auch die Helfer von Deathcare in einem Nebenraum untergebracht, wo sie sich nachts wenigstens ein paar Stunden ausruhen können von den Strapazen. Auch Polizei und Staatsanwaltschaft haben sich hier eingerichtet, um die zahllosen Toten zu erfassen und irgendwie Ordnung ins Chaos zu bringen. Manchmal können Angehörige die Körper noch identifizieren, dann hat der Tote einen Namen, eine Identität. Für die Überlebenden eine traumatische Erfahrung.

Die, die nicht identifiziert werden können, werden von Martin Schulte und seinen Kollegen erkennungsdienstlich behandelt. „Wir spritzen die Finger mit Flüssigkeit auf, sodass man Fingerabdrücke nehmen kann. DNA- und Zahnproben werden genommen, um später einen Abgleich machen zu können. Dann erhalten die Toten eine Nummer und werden beerdigt auf Grabfeldern in langen Reihen. Oft liegen ganze Familien nebeneinander.“ Da bleibt dann niemand mehr zum Trauern.

Erdbeben Kahramanmaras zerstörtes Haus
Makabre Wegweiser für die Helfer: Die Zahlen und Pfeile weisen auf Leichen, die in diesem Haus vermutet werden. © Martin Schulte

Als Profi einiges gesehen, als Mensch am Limit

Die Masse der Toten, das ganze menschliche Leid, das unvorstellbare Ausmaß der Zerstörung, das macht auch Martin Schulte zu schaffen. „Ich habe als Bestatter und und als Rettungsassistent beim DRK in meinem Leben viele Tote und viel Leid gesehen, aber das übertrifft alles – wir sind ja nicht nur Profis, wir sind in erster Linie Menschen.“

Beeindruckt ist er in all dem Leid und dem Chaos, wie gut die türkischen Hilfskräfte organisiert sind und wie pragmatisch jeder mit anfasst. Bagger aus dem ganzen Land haben bereits viel abgetragen und Wege geebnet. „Überall werden Feuertonnen aufgestellt, an denen man sich wärmen kann, auf denen Tee und Suppe gekocht wird“, berichtet Martin Schulte. „Wagen tauchen auf und bieten Essen an. Wir wundern uns, wo das herkommt. Und immer wieder bieten uns Menschen in den Straßen einen heißen Tee an oder etwas zu Essen und danken uns für unsere Hilfe. Das berührt uns.“

Erbebengebiet Kahramanmaras Massengrab
Die Toten werden in riesigen Massengräbern bestattet, oft erinnert nur eine Nummer an den Menschen. © Martin Schulte

Er erinnert sich an zwei kleine Kinder, die auf einer Mauer vor der Sporthalle aneinandergelehnt schlafen. „An den Füßen nur offene Schlappen und das in der Kälte. Ich habe meine Decke geholt und sie den beiden gegeben. Sie haben mich verwundert angeschaut und sich dann in die warme Decke gekuschelt. Das sind Momente, die kann man nicht in Worte fassen.“

Erneutes Erdbeben zwingt zum vorzeitigen Abbruch

Am Montag, 20. Februar, bekommen die Helfer hautnah zu spüren, wie sich ein Erdbeben anfühlt. „Wir waren gerade auf dem Gelände der Feuerwehr, als alles anfängt zu wackeln und selbst die schweren Einsatzfahrzeuge sich plötzlich bewegen“, berichtet Martin Schulte. Ein zweites, heftiges Beben der Stärke 7,3 auf der Richterskala erschüttert das Gebiet. Danach ist auch ihre Unterkunft in der Sporthalle nicht mehr sicher. „Unser Zelt hatten wir einer Familie geschenkt, wir kommen für eine Nacht in der Feuerwache unter.“ Danach müssen die Helfer ihren Einsatz vorzeitig abbrechen. Noch immer finden täglich kleinere Beben statt.

Applaus für die Helfer am Flughafen

Wie dankbar die Menschen im ganzen Land sind für jeden, der hilft im Erdbebengebiet, erfährt das Deathcare-Team auf der Rückreise. „Vor dem Rückflug auf dem Flughafen Istanbul wurden wir am Gate mit Applaus verabschiedet“, berichtet Martin Schulte.

Inzwischen ist er wieder zu Hause. „In der ersten Nacht war ich alle zwei Stunden wach.“ Die schrecklichen Bilder verfolgen ihn. „Man muss sich eingestehen, dass man bei einem Einsatz nicht alle ,retten’ kann, dass man nur seinen kleinen Teil beitragen kann“, sagt Martin Schulte. Und: „Man kommt demütig zurück.“

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