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Vier junge Ukrainer leben jetzt bei Familie Kurz-Ewers in Bönen

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Von: Sabine Pinger

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Bönener Familie nimmt vier ukrainische Flüchtlinge bei sich auf.
Antonina, Inna und Anna Cherednyk und Mykola Pischuhin haben bei Martin Ewers (Zweiter von Links) und Bettina Kurz (Dritte von links) ein Zuhause gefunden. © Pinger Sabine

Die Träume waren andere. Inna Cherednyk wünschte ihren Töchtern ein schönes Zuhause, eine gute Ausbildung und ein glückliches Leben. Dafür hat sie ihr Diplom im Kredit- und Finanzwesen gemacht, gerne in einer Immobilien-Agentur gearbeitet. Mit ihrem Freund hatte sie den richtigen Partner an ihrer Seite. Die Wochenenden verbrachte die Familie oft auf dem Land, auf dem Hof der Eltern, wo die Mädchen frei herumtoben konnten. So hätte es für Inna Cherednyk weitergehen können. Doch ihre Träume zerplatzen an einem Donnerstagmorgen mit den russischen Granatsplittern über ihrer Heimat, der Ukraine.

Genau ein Jahr später sitzt die 33-Jährige an dem großen Esstisch von Bettina Kurz und Martin Ewers in Bönen. Das Holzhaus am Haarenweg ist inzwischen für sie gleichfalls ein Heim geworden. Seit April lebt sie dort mit ihren Töchtern Antonina und Anna sowie dem Bruder ihres Freundes, Mykola Pischuhin. Es ist eine ziemlich bunte „WG“, die dort aus Zufall entstanden ist. Aber sie funktioniert. „Es ist Leben im Haus“, sagt Martin Ewers und lacht. Vor allem die lebhaften Mädchen sorgen dafür. Nach zehn Monaten sind sie in Deutschland recht gut angekommen, auch wenn sie die Sprache noch nicht perfekt beherrschen. „Gerade Tonia ist sehr daran interessiert“, lobt Bettina Kurz. Notfalls springt der Google-Übersetzer auf dem Smartphone ein.

Inna Cherednyk ist ebenfalls ehrgeizig. „Ich habe demnächst meine zweite Sprachprüfung“, erzählt sie. Die Ukrainerin hofft, dass ihr Diplom eines Tages anerkannt wird und sie dann in Deutschland in ihrem Beruf arbeiten kann. Dafür muss sie die Sprache natürlich beherrschen. An ein Zurück glaubt sie indes nicht mehr. „Wir möchten in Deutschland bleiben. Nach dem Krieg wird in der Ukraine nichts mehr sein, und ich möchte, dass meine Kinder eine Zukunft haben. In der Ukraine kann nicht alles schnell wieder aufgebaut werden.“

Der Krieg trennt das Paar

Ihr Partner wird jedoch nicht zu ihr und den Kindern kommen. Er will seinen Hof, sein Dorf und sein Land nicht verlassen. „Für uns wird es keine gemeinsame Zukunft geben“, hat Inna Cherednyk die Beziehung aufgegeben. Der Krieg hat sie zerstört.

Er kam für die junge Frau überraschend. Obwohl die Lage im Donbass bereits extrem angespannt war, lebte sie in der Großstadt Mykolajiw im Süden des Landes recht unbeschwert. Durch den Messaging-Dienst Telegramm erfuhr die junge Mutter vor einem Jahr auf der Arbeit vom russischen Angriff. „Ich habe nicht damit gerechnet“, erzählt sie. Und ebenso nicht, dass der Krieg so lange dauern würde. „Wir haben gedacht, dass es in ein paar Tagen vorbei ist.“

Nikolajew, wie Inna Cherednyk die Stadt auf Russisch, ihrer Muttersprache, nennt, wurde vom ersten Tag an bombardiert. Sie brachte ihre Töchter und sich zunächst in die vermeintliche Sicherheit aufs Land, in ihr Heimatdorf. Doch der Krieg folgte.

„Unsere Eltern haben uns gezwungen, zu gehen“, berichtet die 33-Jährige. Mykola Pischuhin, ihr Schwager, begleitete sie. Seine Eltern wollten verhindern, dass er mit 18 Jahren an die Front geschickt wird. Sie selbst sind indes geblieben, obwohl ihr Leben dort täglich in Gefahr ist. Mykolas Vater, der Landwirt, kämpft jetzt gegen die Russen.

Der Vater kämpft an der Front

Wo er stationiert ist, weiß sein Sohn nicht, ebenso nicht, wie es ihm wirklich geht. „Wir telefonieren ein-, zweimal pro Woche. Aber er darf mir nichts sagen“, erzählt er. Nur kurze Gespräche seien möglich, über das Wetter vielleicht und darüber, was er in Deutschland macht. Mykola Pischuhin kann ihm davon erzählen, was er in der Internationalen Klasse am Hellweg-Berufskolleg lernt oder von seinem Praktikum bei einem Landmaschinentechniker. In der Ukraine hat er studiert, hier möchte er einen technischen Beruf erlernen.

Auch Inna Cherednyk telefoniert regelmäßig mit ihrer Familie, vor allem jedoch die Töchter. „Sie sprechen jeden Tag mit ihren Großmüttern“, erzählt sie. Zu ihnen in den Westen kommen wollen sie noch immer nicht, obwohl Bettina Kurz und Martin Ewers es ihnen angeboten haben.

Die beiden haben die vier Ukrainer im vergangenen Jahr spontan bei sich aufgenommen. „Wir haben zwar vorher mal darüber gesprochen, dass wir Kriegsflüchtlinge bei uns aufnehmen würden, es war aber noch nichts konkret“, so Martin Ewers. Eine Nachbarin fragte dann bei ihnen an. Sie hatte bereits eine junge Mutter und deren Söhne bei sich einquartiert. Olya ist eine Bekannte von Inna Cherednyk. Sie hat ihr die Bönener Adresse als Anlaufstelle genannt und damit machten sich die Vier zwei Monate nach Kriegsbeginn auf den Weg.

Zwei Zimmer für die Ankömmlinge geräumt

Drei Tage lang waren sie unterwegs, mit Bus und Bahn quer durch die Ukraine, Polen und Deutschland. Am späten Abend des 23. April kamen sie endlich in der Gemeinde an. „Sie sollten eigentlich erst ein paar Tage später da sein, doch dann standen sie plötzlich vor der Tür“, erinnert sich Martin Ewers. „Wir haben nur noch schnell die Betten bezogen und eine Suppe gekocht“, fügt seine Frau hinzu.

Zwei Zimmer haben sie für die Flüchtlinge geräumt, Küche, Wohn- und Badezimmer müssen sich die Sechs teilen. Platz haben die beiden Pädagogen, seit dem ihre fünf erwachsenen Söhne ausgezogen sind. Richtig eng wird es nur, wenn die „Jungs“ zu Besuch sind, wie zum Beispiel an Weihnachten. „Da war es schon ziemlich voll“, beschreibt Bettina Kurz.

Verlassene Heimat

Vor dem Krieg hatte die Stadt Mykolajiw (russisch: Nikolajew) im Süden der Ukraine rund 480 000 Einwohner. Die Hauptstadt der Oblast Mykolajiw liegt etwa 60 Kilometer von der schwer umkämpften Stadt Cherson und rund 100 Kilometer von Odessa entfernt. Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung waren ethnische Ukrainer, rund 23 Prozent ethnische Russen, dennoch sprachen die meisten Einwohner (mehr als 50 Prozent) russisch als Muttersprache. Beim russischen Überfall auf die Ukraine wurde Mykolajiw im vergangenen Jahr mit Streubomben beschossen. Hunderte Menschen sind dort getötet worden, ein Großteil der Bewohner ist geflohen. Vor allem auf die zivile Infrastruktur haben es die Angreifer dort abgesehen. Zeitweise gab es in der Stadt kein Trinkwasser mehr, aus den Wasserhähnen kam Salzwasser.

Für sie und ihren Mann ist das kein Problem. „Wir haben ihnen gesagt, dass sie so lange bleiben können, wie sie wollen.“ Dafür sind die vier Ukrainer dankbar. Sie fühlen sich wohl am Haarenweg, bei Familie Kurz-Ewers, wollen zurzeit keine eigene Wohnung haben.

Dass das Zusammenleben so gut funktioniert, liegt sicher an einer großen Portion Toleranz, die offensichtlich vorhanden ist. Das fängt beim Essen an. „Meistens kocht Inna für uns alle, manchmal wir. Das mögen die Mädchen dann nicht so gerne“, beschreibt Martin Ewers und schmunzelt. Seine neuen Mitbewohner mögen es im Gegensatz zu ihm lieber „fleischlastig“, lieber helles als Vollkornbrot. So kauft jeder Lebensmittel ein, die er mag. Die werden einfach geteilt. Das Jobcenter zahlt hingegen seit ein paar Monaten eine Miete für die Ukrainer.

In die Familie aufgenommen

Nichtmal Andrang vor der Badezimmertür gibt es, ein Problem das ansonsten bereits einige Wohngemeinschaften entzweit hat. „Wir brauchen alle nicht so lange im Bad, und seitdem es dort ein Handy-Verbot gibt, klappt das wunderbar“, gibt Bettina Kurz an. Ansonsten gibt es in der „WG“ keine festen Regeln, keinen Putzplan oder Ähnliches. Jeder fasst überall mit an.

„Das ist in gewisser Weise schon Familie“, sagt die Gymnasiallehrerin. Fremd sind sie sich nicht mehr. Klar, dass sie gemeinsam beim Familientreffen waren, Weihnachten und Silvester zusammen gefeiert haben. Die beiden Mädchen genießen es besonders, wenn Martin Ewers sich Zeit für sie nimmt und mit ihnen auf dem Trampolin im Garten herumturnt. Das hat er ein paar Wochen nach ihrer Ankunft extra wieder sicher gemacht.

Für die zehnjährige Antonina und die elfjährige Anna wird das Leben in Deutschland so allmählich zur Normalität. Tonia, wie die jüngere von allen genannt wird, besucht die vierte Klasse der Hellwegschule, lernt Klavier spielen und singt im Chor beim Musikkarussell. Ihre Schwester hat im Sommer auf die Humboldt-Realschule gewechselt. Sie gehört jetzt zu den Sportakrobaten der TuS Bönen. „In der Ukraine hat sie Turmspringen gemacht. Wir haben uns mit ihr das Training in Münster angeschaut, aber das war einfach zu weit weg“, erklärt Martin Ewers. In den Sommerferien hätten die Mädchen im Ferienspaß verschiedene Dinge ausprobiert, Anna ist bei der Akrobatik geblieben.

Kinder sorgen sich um Großeltern und Freunde

Ihrer Mutter ist es wichtig, dass sich die Zwei hier schnell einleben und Deutsch lernen. Sie sollen sich Zuhause fühlen, sicher aufwachsen. Vor allem Tonia macht sich jedoch sehr viele Gedanken um ihre Familie in der Ukraine. „Sie zeigt uns immer wieder Bilder vom Bauernhof, von den Tieren, aber auch von ihrer Schulklasse und den Freunden“, schildert Martin Ewers. Die Freundinnen der Mädchen sind ebenso geflohen, sie leben in Polen, in Tschechien und Italien. Neue Freunde haben die beiden bisher hier nicht gefunden. Ein Mal waren sie mit einem anderen Mädchen Eis essen. „Das war ebenfalls eine Ukrainerin“, sagt Tonia.

Ein bisschen Zeit werden sie doch noch brauchen, um ganz Zuhause zu sein. „Der Schock wird bleiben, das Heimweh irgendwann verschwinden“, hofft Inna Cherednyk. Das ist ein neuer Traum.

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