Es war am zweiten Weihnachtstag, spätabends. Im Haus ist Ruhe eingekehrt. Schlafenszeit, denn morgen geht’s wieder zur Arbeit. Dann merkt Fliegner, dass die Sicherung im Haus herausgesprungen ist. Fast zeitgleich hört er Rufe, öffnet die Schlafzimmertür – und sieht den ausgedehnten Brand im Stockwerk über ihm.
Drei Generationen leben zu dieser Zeit in dem Gebäude am Westenhellweg in Heil unter einem Dach: unten Fliegners Mutter, darüber er mit seiner Frau Petra Stange. Der Weg nach oben ist durch eine Feuerwand versperrt. Dort lebt Tim, sein Stiefsohn, damals 20 Jahre alt.
Es gibt keine Chance, ihn über die Treppe zu erreichen. Geistesgegenwärtig rennt Fliegner runter und durch den Garten zum Schuppen, um seine lange Leiter zu holen. „Die hatte ich mir nach dem zweiten Anbau vor 15 Jahren geholt“, schildert er.
Zurück am Haus, steht ein Unbekannter vor ihm. Es ist ein Angehöriger der Feuerwehr, der privat mit dem Auto unterwegs war und zufällig die Flammen gesehen hat. Mit all seiner Routine kann er den 20-Jährigen über ein Fenster retten.
„Das war richtig eng“, sagt Fliegner heute. „Ich weiß nicht, ob es gereicht hätte, wenn der Mann nicht gekommen wäre.“ Einen Sprung aus fünf oder mehr Metern hätte sein Stiefsohn womöglich nicht überlebt.
Fliegners Schwester Simone Schemmer, Miteigentümerin des Hauses, war am 26. Dezember noch bis 22 Uhr beim traditionellen Familientreffen zu Gast. „Man muss bedenken, dass mein Bruder bei der Rettungsaktion schon Atembeschwerden hatte und Brandverletzungen“, sagt sie. „Natürlich war er auch extrem aufgewühlt.“
Was den Brand ausgelöst hat? „Wir wissen es immer noch nicht und werden es wohl auch nie erfahren“, berichtet Fliegner. „Der Sachverständige meinte: technischer Defekt. Aber um welches Gerät, welche Glühbirne oder welches Kabel es ging, konnte er nicht sagen.“
Er habe die Ereignisse des Tages noch ein- oder zweimal intensiver aus seinem Gedächtnis hervorgeholt, erzählt Fliegner. Das sei für ihn ausreichend gewesen. „Ich bin ein Mensch, der im Hier und Jetzt lebt, und nach vorne blickt“, sagt er. Sein Stiefsohn – von den Flammen eingeschlossen, das Schlimmste vor Augen und damals ebenfalls wegen Verdachts auf Rauchgasvergiftung im Krankenhaus – habe ein wenig mehr am Geschehen zu knacken gehabt, es aber am Ende ebenso gut verarbeiten können wie alle anderen Familienmitglieder.
Gleichwohl: Dem viel zitierten „Glück im Unglück“ folgten für die Familie Monate des Abwartens. „Es hat allein ein halbes Jahr gedauert, bis das Restwert-Gutachten der Gebäudeversicherung fertig war, weil es Verzögerungen bei der Untersuchung gab“, erzählt Fliegner. Das Erstellen der Listen für die Hausratversicherung war da längst erledigt.
Unterm Strich aber gilt auch bei den Folgen des Brandes: Es hätte schlimmer kommen können. Denn Probleme etwa mit den Versicherungen gab’s und gibt es nicht. „Wir bekommen sogar einen Ausgleich für die aktuellen Preissteigerungen auf dem Bau“, erläutert Fliegner. Keine Kleinigkeit bei einer Schadenssumme von mehreren Hunderttausend Euro. Vieles von dem, was die Flammen verschonten (etwa eine externe Festplatte mit vielen Erinnerungsfotos), wurde vom vielen Löschwasser unwiederbringlich zerstört.
Auch die Wohnungsfrage war nach dem Brand schnell geklärt: Die Mutter lebt aktuell bei ihrem Neffen in Kamen-Methler und zieht demnächst in ein kleineres Domizil nach Oberaden. Ein Freund Fliegners bot ihm, seiner Frau und deren Sohn eine Bleibe in Selm an.
Apropos Freunde: „Wenn ich Hilfe benötige, stehen hier gleich zehn auf der Matte“, erzählt Fliegner mit hörbarer Anerkennung und auch ein bisschen Stolz. Der 54-Jährige gehört den Alten Herren des SuS Oberaden an. Gemeinschaft lebt er zudem im Schalke-Fanclub Königsblau Oberaden 2000, dessen Kassierer er ist.
Seine Freunde haben – gleich nach dem Brand und angesichts der ungewissen Zukunft – auch eine Spendenaktion für ihn und seine Lieben ins Leben gerufen. 28.500 Euro sind dabei zusammengekommen. „Das Geld liegt noch auf dem Konto“, sagt Fliegner. Was damit passiert, wisse er noch nicht.
Fliegner ist Maschinenbautechniker. Fast jeden Tag nach der Arbeit steuert er die Ruine an, die mit Dachpappe abgedichtet ist. „Mir fehlt der Garten“, sagt er. Auch sehe er nach der Katze, die bei der Nachbarin lebt. Fliegners Großvater hatte das Haus 1955/56 gebaut, sein Vater einen ersten Anbau realisiert, er den zweiten. Im Gebäude – oder was davon noch da ist – steckt Herzblut drin, das sieht man.
Umso mehr sehnt Fliegner den Wiederaufbau herbei. „Der Bauantrag liegt bei der Stadt. Ich hoffe, er kann schnell genehmigt werden“, sagt er. Alles soll später so aussehen wie früher. Nur, dass die oberen Stockwerke nicht gemauert, sondern in Holzrahmenbauweise erstellt werden. Zusammen mit dem Architekten will Fliegner schon in Kürze die ersten Aufträge erteilen. „Angebote liegen bereits vor.“
Er habe das halbe Haus verloren, aber keine Angehörigen. Dafür sei er dankbar, sagt Fliegner. So einen Brand, den brauche wirklich niemand. „Alle leben – wir haben uns. Den Rest kann man wiederaufbauen“, hatte seine Schwester gleich nach der Zerstörung des gemeinsamen Elternhauses gesagt – und in den ersten Tagen „nur funktioniert“, wie sie sagt. Das alles sei ein riesiger Schock für sie gewesen.
Oliver Fliegner braucht Geduld. Doch er wünscht sich, dass er zu seinem 55. Geburtstag im „neuen“ Haus schon eine große Party mit den vielen Helfern feiern könnte – als Dankeschön für die Unterstützung und den nicht minder wichtigen Zuspruch in all der Zeit. „Spätestens Weihnachten 2023 möchten wir aber wieder eingezogen sein.“