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„Demenz ist ein sensibles Thema“: Neurologe klärt über die Krankheit auf

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Von: Simone Toure

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Neurologe Matthias Pawlowski vom Uniklinikum Münster erklärt, wann Vergesslichkeit ein Fall für den Arzt ist und ab wann man von Demenz sprechen kann.

Münster – Wo habe ich meine Schlüssel hingelegt? Wie ging das noch mit dem Nachrichtenschreiben auf dem Handy? Und wie heißt das Enkelkind vom Nachbarn? Im Alter kämpfen viele Menschen mit Gedächtnisschwierigkeiten. Aber wie viel Vergesslichkeit ist normal? Und ab wann sollte man sich ärztliche Hilfe holen? Der Neurologe Matthias Pawlowski leitet die Gedächtnissprechstunde am Uniklinikum Münster. Im Gespräch mit Simone Toure erklärt er, wie eine mögliche Demenzerkrankungen diagnostiziert wird und wie Mediziner das Fortschreiten der Vergesslichkeit verlangsamen können.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass ältere Menschen vergesslich sind. Ab welchem Punkt sollte man sich Sorgen machen?

Das ist bei jedem Menschen unterschiedlich. Es ist richtig, dass die Gedächtnisfunktion im Laufe des Alters nachlassen kann. Einen klaren Einschnitt, ab dem man von einer Demenz sprechen muss, gibt es nicht. Ein Beispiel: Man fährt für den wöchentlichen Einkauf in den Supermarkt – und es fällt dann ein paar Mal auf, dass man nicht mit allen Waren, die man kaufen wollte, nach Hause gekommen ist. Das kann selbstverständlich normal sein, selbst bei jüngeren Menschen.

Dr. Matthias Pawlowski (40) ist Oberarzt der Neurologischen Allgemeinstation am Uniklinikum Münster
Dr. Matthias Pawlowski (40) ist Oberarzt der Neurologischen Allgemeinstation am Uniklinikum Münster und leitet dort auch die Spezialsprechstunde zu Gedächtnisstörungen. © UKM/Fotozentrale/Wibberg

Es reicht schon, wenn man unkonzentriert oder abgelenkt ist. Dieses Problem kann man mit einem Notizzettel für den Einkauf lösen. Wenn aber auffällt, dass man für immer mehr Dinge Erinnerungszettel braucht und den Alltag nur noch mithilfe der Notizen bewältigen kann, dann geht das über normale Altersvergesslichkeit hinaus. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch das Empfinden von nahen Angehörigen. Das kann der Partner sein, es können auch die Kinder oder andere Angehörige sein, die eine Veränderung bemerken. Das ist ein Hinweis darauf, dass möglicherweise mehr als normale Alltagsvergesslichkeit dahinter steckt.

Wie unterscheiden sich Vergesslichkeit und Demenz?

Demenz ist zunächst einmal ein beschreibender Begriff, keine Diagnose. Er beschreibt ein klinisches Syndrom, das sich durch ärztliche Untersuchung feststellen lässt. Konkret: Ein Mensch hat ein bestimmtes kognitives Leistungsniveau, das sich nun verschlechtert – und zwar soweit, dass diese kognitiven Einbußen alltagsrelevant werden. Das ist der Moment, in dem man von einer Demenz spricht. Für dieses Syndrom gibt es grundsätzlich sehr viele verschiedene Ursachen. Die mit Abstand häufigste Ursache ist die Alzheimer-Krankheit.

Ab welchem Alter fangen die Probleme mit der Vergesslichkeit an?

Aus sozialmedizinischer Sicht werden Demenzerkrankungen in früh beginnende und in normal beziehungsweise spät beginnende Demenzen unterteilt. Der klassische Einschnitt liegt bei 65 Jahren. Man schätzt, dass zehn Prozent der Demenzerkrankungen vor dem 65. Lebensjahr klinisch manifest werden, die anderen erst danach, wobei das Risiko mit steigendem Lebensalter weiter ansteigt.

Was ist, wenn ich als Angehöriger feststelle, dass mein Partner oder ein Elternteil deutlich vergesslicher ist als früher, der Betroffene selbst das aber nicht bemerkt oder es sich nicht eingesteht?

Das ist ein häufiges Szenario. Erstvorstellungen beim Arzt finden ganz häufig auf Initiative des Partners oder eines Kindes statt. Die Betroffenen sagen oft: Ich fühle mich gut, mir ist gar nichts aufgefallen.

Es gibt auch welche, die sich erst mal mit Händen und Füßen wehren. Da kann zum Beispiel Angst vor der Diagnose Demenz dahinter stecken. Für andere ist es eine Erleichterung, wenn sie von Angehörigen angesprochen werden. Sie sind froh, wenn sie merken, dass andere das jetzt in die Hand nehmen und sich darum kümmern. Es kann so oder so verlaufen – und das kann sich im Krankheitsverlauf auch ändern. Manchmal kippt es in die eine oder andere Richtung.

Wie wird Demenz diagnostiziert? Was passiert genau mit mir, wenn ich wegen Vergesslichkeit zum Arzt gehe?

Bei einem Erstkontakt in unserer Gedächtnissprechstunde – und das gilt sicher für andere Sprechstunden auch – ist es wichtig, erst mal ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Arzt und Patient aufzubauen. Es geht ja um den Verlust von geistigen Funktionen. Das ist ein sehr sensibles Thema, das bei vielen auch angstbehaftet ist. Ich frage erst mal nach, wie der Alltag aussieht, was sich in den vergangenen Jahren verändert hat. In einem zweiten Schritt folgt immer ein Gespräch mit jemandem, der der betroffenen Person nahe steht. Meist ist das der Partner.

Die Kombination aus Anamnese und Fremdanamnese ist entscheidend. Im nächsten Schritt folgt eine klinische Untersuchung, vor allem eine sogenannte neuropsychologische Exploration. Dabei untersucht man mit kleinen, einfachen Tests die verschiedenen kognitiven Fähigkeiten. Man schaut: Wie sind die Gedächtnisfunktionen, die Sprachfunktionen, visuell-räumliches Sehen und Denken, Abstraktionsvermögen, Urteilsvermögen – das sind die Bereiche, die man in einem kurzen, strukturierten Interview untersuchen kann, um Defizite zu identifizieren.

Sie sprechen von kurzen, einfachen Tests. Viele Menschen haben aber Angst davor.

In der Regel werden diese Tests sehr wertschätzend durchgeführt. Wir sagen den Betroffenen, dass es normal ist, wenn sie aufgeregt sind, dass es normal sein kann, wenn sie bestimmte Aufgaben nicht lösen können. Wenn wir durch den Test einen Ersteindruck haben, erarbeiten wir mit dem Patienten gemeinsam einen Plan, wie es diagnostisch weitergeht. Es ist wichtig, dass die Patienten sich ernst genommen und gut aufgehoben fühlen.

Welche Untersuchungen finden noch statt?

Klassischerweise wird Blut abgenommen und auf bestimmte Stoffwechselkrankheiten untersucht. Man schaut nach den Funktionen von Leber, Nieren und Schilddrüse. Wenn diese nicht gut sind, können sich auch kognitive Funktionen verschlechtern. Dann macht man ein MRT vom Kopf. Man braucht eine strukturelle Bildgebung des Gehirns. Wir bestellen unsere Patienten sehr häufig noch mal eine Nacht stationär ein, um eine ausführliche neuropsychologische Testung zu machen. Ein speziell ausgebildeter Neuropsychologe führt dann noch mal ein ausführliches, strukturiertes Interview mit dem Patienten.

Man macht oft auch eine sogenannte Lumbalpunktion. Dafür setzt sich der Patient auf die Bettkante, macht einen Katzenbuckel und der Arzt pikst mit einer dünnen Nadel in den Bereich der Lendenwirbelsäule und entnimmt ein paar Milliliter Nervenwasser. Das tut nicht besonders weh, man braucht keine Betäubung. Das Nervenwasser wird untersucht, zum Beispiel hinsichtlich Infektions- oder Autoimmunerkrankungen, die ein Demenz-Syndrom verursachen können, das man behandeln kann. Aber auch neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer kann man über das Nervenwasser diagnostizieren.

Welche Formen von Demenz gibt es?

Es gibt zwei große Gruppen von Demenzursachen. Eine sind die primär neurodegenerativen Erkrankungen. Das sind Erkrankungen, die durch Eiweißablagerungen im Gehirn ausgelöst werden. Von diesen primär neurodegenerativen Erkrankungen ist mit Abstand die häufigste die Alzheimerkrankheit. Die zweithäufigste ist die Parkinson-Krankheit. Auch diese Patienten entwickeln typischerweise im Krankheitsverlauf eine Demenz. Daneben gibt es noch die große Gruppe der sekundären Demenzen. Das heißt, man hat irgendeine andere Krankheit, die aber auch Einfluss auf das Gehirn nimmt und eine Demenz verursachen kann. Eine häufige Form sind die sogenannten vaskulären Demenzen, bei denen man infolge von Durchblutungsstörungen im Gehirn eine Demenz entwickelt. Auch chronischer Alkoholkonsum über Jahre kann zu einer Demenz führen.

Demenz lässt sich nicht behandeln. So denken viele. Ist das überhaupt richtig?

Entscheidend ist die Ursache der Demenz. Es gibt eine kleine Gruppe von Demenzerkrankungen, die man behandeln und auch heilen kann. Gerade bei jüngeren Menschen ist das häufig so. Das andere Extrem ist die Alzheimerkrankheit. Die kann man im Moment nicht heilen. Aber auch da ist die genaue Diagnosestellung wichtig, weil es bestimmte zugelassene Medikamente gibt, mit denen man das Fortschreiten der klinischen Symptome aufhalten kann. Der Therapieeffekt der Medikamente ist nicht besonders groß, aber er kann für einzelne Betroffene einen relevanten Einfluss haben.

Ich sage meinen Patienten oft: Das Therapieziel ist, dass Sie das Niveau, dass Sie in diesem Moment haben, für einen gewissen Zeitraum halten, ohne dass es schlechter wird. Salopp gesagt: Ich möchte eigentlich, dass die Patienten in einem Jahr zur Verlaufskontrolle wiederkommen und mir sagen: Ich habe nichts gemerkt. Es hat sich überhaupt nichts verändert. Dann sage ich: Super, das war ja das Ziel. Ein Jahr ist ein langer Zeitraum, gerade für Ältere: Da kann man ein Enkelkind aufwachsen sehen oder noch mal eine größere Reise machen, die man sich vorgenommen hatte. Wenn die Demenz ins nächste Stadium voranschreitet, kann man das alles vielleicht nicht mehr machen. Deshalb können auch relativ kleine Therapieeffekte relevant sein.

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