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„Das Weiszheithaus“ von Holger Siemann

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Von: Ralf Stiftel

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Chronist eines Gebäudes: Der Autor Holger Siemann.
Chronist eines Gebäudes: Der Autor Holger Siemann. © Barbara Dietl

Am Anfang gibt Holger Siemann erst einmal erzählerisch Vollgas. Auf etwas mehr als 20 Seiten führt er seinen Ich-Erzähler Sven Gabbert, geboren 1972 in der DDR, vom Gebrauchtwagenschieber zum Internetgründer, weiter in eine Leprastation in Indien, von wo aus er einen Haschisch-Schmuggel aufzieht, dann in eine Farm in Australien mit der unkomplizierten Annie. Mal ganz oben. Dann wieder pleite. Andere Autoren hätten damit genug Stoff für einen Roman gehabt. Siemann wirft es dem Leser als Appetitmacher hin.

Der Roman „Das Weiszheithaus“ ist unbescheiden „Ein Jahrhundertroman“ untertitelt. Das zielt zunächst auf den Zeitraum, den die Handlung umspannt. Das Buch handelt von einem Mietshaus in Berlin, errichtet 1900, und schildert, was mit dem Bau und seinen Bewohnern bis ins frühe 21. Jahrhundert geschieht. So spiegelt sich im Gemäuer Weltgeschichte: zwei Kriege, zwei Diktaturen, Umstürze, Intrigen, Schicksale. Der Erzähler Gabbert, der den Band zusammenträgt, hat das Haus geerbt. Der Weltenbummler ist Urururenkel von Gustav Weiszheit, jenem Spross einer baltischen Holzfällerfamilie, der das Gebäude an der Kopenhagener Straße errichten ließ.

Gabbert findet im Haus den Nachlass seines Großvaters Kurt Weiszheit, der in der DDR ein erfolgreicher, beinahe linientreuer Schriftsteller gewesen war. Auch er arbeitete an einer Chronik seiner Familie.

Gabbert erleidet einen Unfall, bei dem er die Liebe seines Lebens rettet, gleichzeitig aber querschnittgelähmt im Rollstuhl landet. Nun hat er Zeit, die vielen alten Akten, die Romane des Kurt Weiszheit und auch die Festplatte seines Computers auszuwerten. So folgt der Leser einerseits den Bemühungen Gabberts, wieder Grund unter die Füße zu bekommen, heimisch zu werden und das Herz der Anwältin Laura Goldberg zu erobern. Andererseits werden die Lebenswendungen der Weiszheits nachgezogen. Der Name übrigens leitet sich, so der Autor, von der blassen Haut ab, die viele Familienmitglieder haben. Ein anderes Merkmal ist die „Nase“, ein besonders fein ausgeprägter Geruchssinn, der leitmotivisch immer wieder auftaucht.

Wie sich Siemann durch die Epochen arbeitet, das verleiht dem Roman erhebliche Faszination. So schildert er Gustavs erste Eindrücke der Hauptstadt: „Die Berliner Luft riecht nach Vogelkot und Kohlenrauch, nach Laub, Kleidern und Pferdemist, nach feuchtem Mörtel und abziehendem Gewitter; auch Verderbtes ist dabei, würzig wie Fischgräten in der Sonne, und Altes, wie das stehende Wasser des Atmath zwischen den Stengeln des Schilfs.“ Das freilich soll nicht Gabbert geschrieben haben, sondern es steht eingerückt, angeblich ein langes Zitat aus einem Roman Kurt Weiszheits. Nicht einmal „Jahrhundertroman“ hat sich der Erzähler ausgedacht, so heißt auch eine Datei auf Weiszheits Computer. Minuziös listet Siemann in einem 50-seitigen Anhang das Material auf, das er für sein Buch ausgewertet haben will.

Es ist alles Lüge. Es gibt keine Bücher von Kurt Weiszheit, nicht den Liebesroman „Klaus und Karola“, nicht das Huldigungsgedicht an Stalin, nicht das verklärende Erzählwerk „Gustav, der Sucher“. Die vermeintlichen Quellen sind Erzählstimmen Siemanns, der sich so die Möglichkeit eröffnet, Spannungen zwischen dem Erzähler Gabbert und seinem Großvater aufzubauen, der alles andere als zuverlässig berichtet. So kann Siemann auf einen allwissenden Erzähler verzichten und doch tief in ferne Epochen tauchen, ohne unglaubwürdig zu werden. So ist es kein Problem, vom dramatischen Einbruch des Ersten Weltkriegs in das Weiszheitshaus zu berichten, wo die junge Elise Weiszheit Entzündungen unter Verbänden wittert und sich eine Werkstatt für die Produktion von Prothesen für Kriegskrüppel ansiedelt. Ob Terror durch die Nazis, Übergriffe durch russische Soldaten nach dem Zusammenbruch des NS-Reichs, das Durchwurschteln im real existierenden Sozialismus, für alles gibt es passende Unterlagen. Siemann lässt Gabbert finden, was der braucht: Tagebücher, Mietunterlagen, Zeitungsartikel, Stammbäume, Fotos, Karten, schon vorbereitet von seinem Großvater für dessen eigenen „Jahrhundertroman“.

Das ist, je öfter man in das Buch schaut, desto packender. Zumal Siemann, 1962 in Leipzig geboren, seit 2001 freier Autor von Hörspielen, Essays und zwei Romanen, ein Freund der Grautöne ist. Gerade seine fragwürdigen Charaktere kann der Leser ins Herz schließen: Joschi Komalla, den Wohnungsamtsleiter, der das Haus am liebsten in Volkseigentum überführen möchte. Oder Herbert Nachtigall, der für Kurt Weiszheit zuständige DDR-Kulturfunktionär, dem die Eskapaden seines nicht nur unberechenbar schreibenden, sondern auch noch schwulen Schützlings auf die Gesundheit schlagen, so dass er sich immer wieder kratzen muss, Magen- und andere Beschwerden erleidet.

Perfekt ist das Buch nicht, an manchen Stellen hätte ein gründlicheres Lektorat gut getan, zum Beispiel, wenn als Autor von „Draußen vor der Tür“ Max Beckmann genannt wird. Und ob ein DDR-Autor 1952 im Zusammenhang mit der Nase von „Rezeptorzellen“ geschrieben hätte, darf bezweifelt werden. Nett allerdings ist der Anachronismus, dass Komalla in der Endzeit der DDR Donald Trump zitiert: „You are fired!“

Und solche Detailkratzer schmälern nicht den Wert des Romans, der die große Geschichte überzeugend im Mikrokosmos eines Mietshauses spiegelt. Zudem lenkt er wie wenige andere den Blick auf Stadtentwicklung. Was Gentrifizierung ist, sieht man zwischen den Erzählblöcken. Und man erkennt auch, wie sehr ein gutes Leben an guten Nachbarn hängt.

Holger Siemann: Das Weiszheithaus. Ein Jahrhundertroman. Dörlemann Verlag, 736 S., 28 Euro

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