Grohnert sagt, dass es spannend gewesen sei, die Schau zu konzipieren. Es muss zunächst eine Herkules-Aufgabe gewesen sein, die erste Auswahl war noch vierstellig. 300 Exponate klingt viel, bildet aber nur ein Promille des enormen Bestandes ab. Es geht nicht nur darum, Klassiker und Highlights zu präsentieren. Grohnert will die Ästhetik des Plakats entfalten, Präsentationsformen vorführen, die Fülle der Themen, Stile, Techniken demonstrieren. Die Ausstellung ist chronologisch gehängt und beginnt mit Vorformen wie Werbezetteln und politischen Dekreten wie der Mitteilung über die Thronbesteigung des österreichischen Kaisers Franz Joseph von 1848. Schon beim Betreten fällt die großartige Schauarchitektur ins Auge: Zweireihig übereinander strahlen die bunten Werbebildwelten. Die Museumsleute stellten in die Kabinette eine Laterne, eine Litfaßsäule, eine Vitrine, in der Plakate beleuchtet und wechselnd zu sehen sind. Sogar eine hypermoderne Bushaltestelle mit Großbildschirm steht da; die Zukunft des Plakats ist digital und bewegt und zwischen der Reklame kann man auch den nächsten Bus und das Wetter verkünden.
Einige Plakate haben sich ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Das wohl bekannteste aus dem Ersten Weltkrieg inspirierte den Ausstellungstitel. 1917 ließ James Montgomery Flagg die personifizierte Nation mit dem Finger auf den Betrachter deuten: „I want you for U.S. Army“. Das wollte Kurator Grohnert natürlich auch zeigen, und sei es als Leihgabe. Es war nur nicht verfügbar. Der Museumsverein half, und so ist es nun als Neuerwerbung ausgestellt. Auch andere Klassiker sind zu sehen, darunter Meisterwerke berühmter Künstler wie Henri de Toulouse-Lautrecs Bildnis von Aristide Bruant (1892) und Théophile-Alexandre Steinlens „Chat noir“ (1896), Alfons Maria Muchas pathetische Jugendstilkreationen wie Sarah Bernhardt als Gismonda (1894). Viele Größen der Kunstgeschichte findet man. Der Expressionist Oskar Kokoschka warb für die Zeitschrift „Der Sturm“ (1910/11). Max Pechstein wiegelte nach dem verlorenen Krieg die revolutionären Massen auf: „An die Laterne“ (1919). Später widmeten sich viele Pop-Art-Meister dem Medium: Andy Warhol, Roy Lichtenstein, Robert Indiana.
Es gibt aber auch Werke, die nur durch ihr Motiv ikonisch wurden. Der rauchende Marlboro-Cowboy ist so eine Figur. Oder die psychedelischen Bildwelten, mit denen Charles Wilp suggerierte, die braune Brause Afri-Cola hätte berauschende Wirkung. Man findet solche Plakate in der Ausstellung. Aber Grohnert ging es nicht um ein bloßes „Best-of“.
So findet man eben auch vermeintlich triviale Produktwerbung. Oder ungeschlachte, grobe Politparolen des Atelier Populaire, mit denen die Studenten 1968 in Paris gegen die Staatsgewalt aufmuckten. Die Themenfülle von Pudding und Schuhen, Theater und Tourismus, der Vergleich der Bildwelten von BRD und DDR, ergibt eine Art visueller Kulturgeschichte. Das inhaltlich vermeintlich banale, oft zugespitzte und vereinfachende Plakat spiegelt eben den Alltag besonders klar.
Vor allem aber ist die Schau ein großes Sehvergnügen. Faszinierend zum Beispiel, wie die Pioniere der Gestaltung in der Reduktion eine eigene visuelle Sprache fanden, ein Motiv so konzentrierten, dass es noch dem flüchtigsten Passanten unfehlbar ins Auge sprang. T.T. Heine warb 1896 für die Satirezeitschrift Simplicissimus nur mit deren Namen und dem Bild einer zähnefletschenden Bulldogge, die sich von ihrer Kette losgerissen hat. Lucian Bernhard zeigte 1911 eine aufgeklappte Schachtel und darauf eine zum Anstecken bereitgelegte Zigarette. Da genügte der Markenname: „Manoli“. Ludwig Hohlwein verbildlicht Malfarben mit drei Handabdrücken auf schwarzem Grund. Kaum zu glauben, dass das Plakat „Pelikan Künstler-Farben Zet“ schon um 1913 entstand. Faszinierend ist, wie unter dem Einfluss des Bauhauses die Typografie einen Bildwert bekommt, wie Buchstaben kleiner, größer, schräg, gestaffelt auftreten. Faszinierend zu sehen, wie unterschiedlich Entwerfer ein Thema treffen. Zu den Olympischen Spielen 1972 zeigt Max Bill ein auf die Spitze gestelltes weißes Quadrat, umgeben von Spektralfarben, Pierre Soulages fasst das Motiv in einem kalligrafischen Zeichen.
Plakate bringen Botschaften auf den Punkt. Das ganze Wirtschaftswunder, das „Wir sind wieder wer“, steckt in dem Motiv von Edel zur Deutschen Industrie Ausstellung 1950: drei rauchende Schlote in Schwarz-Rot-Gold.
Nicht alles konnte Grohnert vorhersehen. Es gibt aus den Weltkriegen Plakate, die Kampfeslust anstacheln sollten. Wer konnte ahnen, dass ein neuer Diktator Motive aus der NS-Zeit wie „Hass und Vernichtung unseren Feinden“ und „Nahrung ist Waffe“ mit einem Schwertarm vor einer Weizengarbe (1943) brandaktuell machen würde?
Plakate haben Geschichte. Wie lange noch können Betrachter ohne Kommentar den Witz der Telekom-Werbung von 2002 verstehen, bei der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki das Telefonbuch rezensiert: „Hier steht auf Seite 300 noch was Neues.“ Oliviero Toscanis Kampagne für das Modelabel Benetton provozierte in den 1990er Jahren mit Bildern eines Priesters, der eine Nonne küsst, und einer Familie am Sterbebett eines Aids-Kranken. Heute wirken diese Botschaften von Diversität und Inklusion sehr mainstream-kompatibel.
Und manchmal sind Plakate ihrer Zeit voraus. Die Zeitschrift twen wirbt unter einem Paar im Oldtimer-Cabriolet für „Liebe per Computer“. Gedruckt 1968.
Bis 28.8., di – so 10 – 18, do, fr bis 10 – 20 Uhr,
Tel. 0201/ 88 45 444, www.museum-folkwang.de
Katalog, Steidl Verlag, Göttingen, 38 Euro