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„Mit anderen Augen“ in den Bochumer Kammerspielen

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Von: Achim Lettmann

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Silhouetten von Musikern und Schauspielern im Gegenlicht sind im Stück „Mit anderen Augen“ an den Bochumer Kammerspielen zu sehen.
Silhouetten von Musikern und Schauspielern im Gegenlicht sind im Stück „Mit anderen Augen“ an den Bochumer Kammerspielen zu sehen. © Silja Korn

„Mit anderen Augen“ führt die Zuschauer in den Bochumer Kammerspielen zu einem emphatischen Musik- und Sounderlebnis, das sich an Nichtsehenden orientiert.

Bochum – Am Anfang ist „The Sound of Silence“ von Paul Simon und Art Garfunkel zu hören. Erst nur eine Stimme, dazu ein Ton, der rhythmisch angeschlagen wird, wie ein Metronom. Langsam erhebt sich das Musikstück aus den 1960er Jahren, wird mehrstimmig, instrumentiert und entwickelt sein getragenes Klangvolumen, das die Kammerspiele in Bochum erfüllt. Schrittweise wird das Publikum aufmerksam und mitgenommen. Der feinsinnige Musikvortrag bleibt dabei immer kontrolliert.

Torsten Kindermann ist der musikalische Leiter, der Klassiker des Pop und Jazz für einen außerordentlichen Abend arrangiert hat. „Mit anderen Augen“ handelt vor allem vom Hören. Und Regisseurin Selen Kara sensibilisiert die Zuschauer für ein Erlebnis, das die sichtbare Welt verschleiert und die Menschen an Erfahrungen heranführt, mit denen Blinde leben müssen. Der Theaterraum wird verdunkelt, bis ein wenig Licht auf einem Gaze-Stoff changiert (Bühne: Lydia Merkel). Als sich der Vorhang hebt, ist eine Frau hinter einer Milchglasfolie zu erkennen. Sie bewegt sich, tanzt – nur schemenhaft ist ihr Körper in Grau zu erahnen.

Regisseurin Selen Kara führt in die fühlbare Welt. „Ich bin hier und spüre die Größe des Raumes“, sagt ein Stimme im Off. Das Publikum wird nicht im Unklaren gelassen. Wie fühlen sich die Armlehnen an, wie weit ist der Theatersessel mit dem Bezugsstoff bespannt? Bochum öffnet die Welt des Nichtsehens, neue Eindrücke in bekannten Stuhlreihen. Von 400 Plätzen sind 160 besetzt. Dem Zuschauer wird vorsichtig ein Sinn entkräftet, damit behutsam erlebbar wird, wie wichtig das Hören ist.

In der Welt der Klänge. Nun ist von Kuchen und Kerzen die Rede, Teller klappern, auf der Bühne tut sich was, und man gewinnt Sicherheit im lichtarmen Theater. Auch weil „Happy Birthday“ von Stevie Wonder verrät, was hier geplant ist.

Als sich das Publikum gefasst hat, den Spielansatz von „Mit anderen Augen“ annimmt, wird plötzlich rhythmisch geklatscht, als könne die Party beginnen. Gut, dass diese Initiative – wem sei dank? – abreißt, denn laute Ekstase hat auf der Bühne niemand geplant.

Wie wird man blind? Selen Kara hat mit sehbehinderten Menschen gesprochen. „Sehnervschwund“ ist eine Ursache, hell und dunkel vermittelt sich noch, aber keine Farben. Mit kurzen Textintros wird informiert: „Es war im Krankenhaus nach der Explosion“. Es gibt die Gesichter vor dem blind sein und Menschen ohne Gesichter danach, ist zu hören, und die Erblindung kann einem auch visuelle Erinnerung nehmen.

Nun sind die Musiker gekommen. Als Silhouetten im Gegenlicht sind die vier zu sehen, neben drei Schauspielerinnen und einem Schauspieler. Zu „Is There Anyone Out There“ von Ray Charles ist ein Akkordeon zu hören. Jedes Musikstück lässt sich als Tonfolge entdecken. Tuba, Sax, Klarinette, Mandoline, Xylophon, Trommel, Gitarre, Bass, Piano stehen bereit – „Mit anderen Augen“ macht Lust auf mehr. Und Lichtdesigner Denny Klein schafft atmosphärische Wärme.

Jede Initiative auf der Bühne öffnet eine andere Tür. Glasmusik schwingt anders als der brummelnde Kontrabass zu „When You’re Smiling“, das Dean Martin bekannt machte. Eine Cajon wird geschlagen, die Geige von Jan-Sebastian Weichsel weint ein wenig – der Abend klingt plötzlich wie eine Session. Der kurze Applaus fügt sich diesmal gut ein. Und der blinde Pianist Jörg Siebenhaar stellt sich irgendwann vor, er könne seine Glasaugen wechseln. Auch Anne Rietmeijer ist selbstironisch, wenn sie sich für Problemgespräche anbietet – aber bitte ohne Lösung. Alle stellen sich persönlich vor: aufrichtig, gewissenhaft, unterhaltsam. Und man weiß zu dem Zeitpunkt, dass für Sehbehinderte die Stimmlage eines jeden Menschen wichtig ist.

So ein reicher Abend! Michael Lippolds Sprechgesang macht Joachim Distelmeyers Liedgedicht „Der Wind“ zu einer Introspektion. Zu Charles Trenets Chansonklassiker „La Mer“ fassen sich alle bei den Händen und sind – auf und ab – das Meer selbst.

Diese Klangflüsterer lassen es mit einer Klopfdramaturgie regnen. Bei „Hit The Road Jack“ werden die jammernden Kerle von den taffen Frauen angestupst, und das R’n’B-Stück „Free Your Mind“ von En Vogue wird mit einer Soulstimme gefeiert, weil Romy Vreden das kann. „And the rest will follow. Black!“ heißt es in Bochum. Ein empathisches und ideenreiches Hörspiel voller illustrer Gestalten. Klasse!

22.2., 15., 22.3.; Tel. 0234/3333 5555; www.

schauspielhausbochum.de

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