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Sandra Hüller spricht Heiner Müller in Bochum: „Die Hydra“

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Von: Achim Lettmann

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Sandra Hüller spricht in der Möbellandschaft der Kammerspiele Texte von Heiner Müller: „Die Hydra“. Foto: aurin
Sandra Hüller spricht in der Möbellandschaft der Kammerspiele Texte von Heiner Müller: „Die Hydra“. Foto: aurin

Bochum – Stücke von Heiner Müller (1929–1995) stehen nur noch selten auf den Spielplänen der Stadttheater. In Bochum sind nun Texte vom Dramatiker, Lyriker, Essayisten und Intendanten zu hören, die seine Gedanken zu einer eindringlichen theatralen Erfahrung machen. „Die Hydra“ heißt die Uraufführung in den Kammerspielen.

Dabei entwickeln Sandra Hüller (Schauspiel, Musik), Tom Schneider (Regie), Moritz Bossmann, Sandro Tajouri (beide Musik) und Michael Graessner (Bühne, Kostüme) eine Methode, die dem Text neue Wirkmacht verschaffen will. Er ist weniger an Sandra Hüller gebunden, weniger Teil der Dramaturgie und wird doch als das Kostbarste präsentiert, was im Theater verhandelt werden kann. Es geht um eine Vergegenwärtigung.

Müllers Sprache, die sich am Duktus des griechischen Mythos ausrichtet, wird von Sandra Hüller rezitiert („Brandopfer lagen vor dem Herd des Zeus“) bis schnell inszenatorische Fragen das Team fordern. Kostümieren? Mit billigen Schnurrbärten und einer Monster-Schleife wird das Verkleiden verlacht. Musik und Atmosphäre ja, aber wie? Tonspuren sind wichtig, acht Verstärker und Rückkopplungen mit dem Publikum, „an meinem Herzen ist der schönste Ort“ wird gesungen. Es ist ein Blick in die Probenarbeit („Die Spur als Signal“), die den Anfang sucht, den das Publikum schon erwartet hatte. Die dramatische Dimension von Müllers Texten wird neu justiert. Regisseur Tom Schneider zeigt Ensemblearbeit.

Und um Arbeit geht es auch in Müllers Text „Befreiung des Prometheus“ aus dem Stück „Zement“, 1973 uraufgeführt. Müller sieht in Herakles, Zeus Sohn, den ersten Arbeiter, der zwölf unlösbare Aufgaben erfüllte und sich so von den Göttern löste. Zwischendurch erlegte er den Adler, der dem Mythos nach von Prometheus’ Leber fraß. Herakles beendet so auch das Jahrtausende währende Martyrium. Bei Müller muss er allerdings den Befreiten vom Berg tragen, weil dem Gefangenen ohne Adler die Einsamkeit ängstigt und die Freiheit ihm ohne Götter eine ungewisse Zukunft bedeutet. Was macht der Mensch, wenn er frei ist?

Müller stellt die Frage, und Sandra Hüller trägt den Text konzentriert, dann im Plauderton ganz locker vor. Ein archaisches Gummireptil auf der Bühne kraucht davon, das kleine Flämmchen der Feuerstelle ist durch eine olle Tischlampe ersetzt, und Michael Graesser schiebt einen Schrank heran, setzt eine Standuhr ab, das WC, verteilt Hocker und Polsterstühle. Alles verbrauchte Einrichtungsträume, die längst second hand verkloppt oder verschenkt werden. Auch dafür hat der Mensch gearbeitet.

Graesser braucht Muskelkraft, Hüller spricht den Text, der ihr über Mirkoport aufs Ohr gegeben wird. Sie selbst nennt das „entpersonalisiert“ und den Text „wie er da steht“. Gelingt eine neue Qualität von Werktreue?

Die Verstärker dröhnen ein Geräuschfeedback. Und der Text gewinnt an Raum. Hüller macht ein paar Übungen für Bauch und Trizeps und fokussiert. Sie reflektiert über Fortschritt, der auch Fehler macht, über Schauspieler, die für den Unmut des Publikums dasein müssen, über Wertigkeit und „Der Cappuccino kommt nicht.“ Seit dem Calvinismus ist Arbeit sogar gottgefällig.

Hüller ist nachdenklich, reduziert sich, spricht unser Gewissen an. Gazevorhänge werden vor die Wohnlandschaft gezogen, das Dröhnen stoppt. In die reinigende Stille spricht Hüller „Herakles 2“, wie ein Mensch auf bizarre Weise ein Tier wahrnimmt und sich selbst erkennt. Dazu krachten die Möbel zusammen. Endzeitstimmung.

Das ist bedrückend und unabwendbar. Vor der Bühne wird dann das blutige Mordszenario von „Herakles 13“ Wort für Wort, fast intim, hörbar: Was passieren kann, wenn der Mensch alle Aufgaben erfüllt hat... Neu ist das nicht und immer wieder in unseren Nachrichten.

15., 16., 19., 23. 10.; 18., 19., 25. 11.; Tel. 0234/3333 5555; www. schauspielhausbochum.de

Lautsprecher-Ausfall

Ein Lautsprecher war bei der „Hydra“-Premiere ausgefallen. In den ersten Reihen gab es Akustikprobleme, gab das Schauspielhaus Bochum bekannt. Alle Zuschauerinnen und Zuschauer der Reihen 1 bis 5 werden Ersatztickets angeboten, verspricht das Haus.

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