Weshalb die Weimarer Republik 1923 unter Druck geriet, thematisiert eine Ausstellung in Essen: „Hände weg vom Ruhrgebiet! Die Ruhrbesetzung 1923 – 1925“. Am 11. Januar 1923 marschierten belgische und französische Truppen ins Kohlerevier und gingen vor dem Essener Rathaus in Stellung, das Rheinisch-Westfälische Kohlen-Syndikat (RWKS) und die Reichsbahn waren nicht weit. Die Allierten brauchten Kohle. Die deutschen Truppen hatten auf ihrem Rückzug im 1. Weltkrieg Kohlegruben in Nordfrankreich und in der belgischen Wallonie geflutet und Infrastruktur zerstört. Die Industrieproduktion der Alliierten war auf Jahre gestört, ganze Landstriche bis heute verwüstet. Die Franzosen mussten nach dem verlorenen Krieg 1870/71 Reparationen an das deutsche Kaiserreich leisten. Aber Deutschland kam den Forderungen aus dem Versailler Friedensvertrag von 1919 nicht nach. Am 5. Mai 1921 setzte ein Ultimatum den Betrag auf 132 Milliarden Goldmark. Düsseldorf und Duisburg waren 1921 schon besetzt. Das RWKS reagierte. Sitz des Kohlen-Kartells wurde Hamburg. Die Regierung in Berlin zeigte sich von der Besetzung überrascht.
Das Ruhr Museum blättert die Jahre von 1923 bis 1925 in sechs Kapiteln auf, wie Unternehmer, Propagandakrieg, Alltagserfahrungen, Eisenbahn und Verkehr. 60 000 Soldaten rückten bis 16. Januar auf Dortmund vor. Mit Panzern, Maschinengewehren und Bajonetten verschafften sie sich Respekt. Berlin rief am 13.1. zum passiven Widerstand auf – keine Kooperation mit den Besatzern. Nach Schießereien und ersten Opfern richteten die Alliierten eine Zollgrenze ein. Im Osten war Kamen Grenzstadt. Widersetzliche Beamte, Eisenbahner, Polizisten und Behördenmitarbeiter wurden samt ihrer Familien ausgewiesen – rund 130 000 Menschen. Die Alliierten gründeten die „Regie-Bahn“ und organisierten den Abtransport der Kohle selbst. Unfälle waren an der Tagesordnung. Deutsche sprengten den Rhein-Herne-Kanal bei Henrichenburg. Am 31. März starben 13 Kruppianer vor der Verwaltung in Essen. Als Lkw requiriert wurden, fühlten sich die Soldaten von Arbeitern bedroht und schossen in die Menge („Blutiger Karsamstag“). Insgesamt starben 130 Personen unter der Besatzung. Zeitweise waren 100 000 Soldaten im Kohlerevier stationiert. Deutschlandweit wurde die Industriestätten von Duisburg bis Dortmund erstmals als Ruhrgebiet wahrgenommen.
Zur Identitätsbildung führte auch die kurze Einigkeit unter Gewerkschaften, Parteien und Unternehmern. Die Besatzer waren der gemeinsame Feind. Doch die Unterstützungsgelder aus Berlin glichen Arbeiterlöhne und Firmengewinne nicht aus. Die Inflation grassierte. Im Mai streikten 500 000 Bergleute und 120 000 Stahlarbeiter. Der passive Widerstand stellte die Produktion auf Null. Ohne die Güter- und Warenleistung an Rhein und Ruhr ging die deutsche Wirtschaft auf Talfahrt. Reichskanzler Wilhelm Cuno, konservativ und wirtschaftsliberal, musste nach massiven Streiks am 12. August zurücktreten. Gustav Stresemann, der neue Kanzler, beendete den passiven Widerstand am 26. September. Verhandlungen mit den Alliierten folgten. Mit der Einführung der Rentenmark am 15. November wurde die Hyperinflation gestoppt. Am 23. November vereinbarten Unternehmer und Alliierte, dass die Schwerindustrie im Ruhrgebiet wieder produzierte. Der Dawes-Plan ordnete ab 16. August 1924 die Reparationen neu. Deutschland zahlte wieder. Erst 1986 überwies in rechtlicher Folge die Bundesrepublik letzte Reparationsleistungen.
Die Ausstellung im Ruhr Museum zeigt, dass die Besetzung propagandistisch bekämpft wurde: Ein Unrecht, das Deutschland in Friedenszeiten trifft. Ein Land, das den Weltkrieg nicht verschuldete, sondern sich verteidigen musste. Zwei Vorstellungen halten sich dabei im kollektiven Gedächtnis: Der Einmarsch der Franzosen war Unrecht und die Reparationsforderungen zu hoch. Die Auffassung vom „Versailler Friedensdiktat“ ging durch alle Gesellschaftsschichten und wurde von Rechtsnationalen politisch instrumentalisiert („Schandfrieden“). Dabei sind beide Annahmen widerlegt. Die Kuratoren der Ausstellung, Andreas Zolper und Ingo Wuttke, stützen sich auf die aktuelle Forschungslage.
Die Präsentation „Hände weg vom Ruhrgebiet!“ führt einen mit rund 200 Exponaten in die Besatzungszeit. Zu sehen sind Karten zur „Regie-Bahn“, ein belgisches Militärfahrrad, eine Hotchkiss M 194 mit Lafette, das Standard-Maschinengewehr der Franzosen, und zahlreiche Fotografien, Dokumente, Medaillien, Gedenktafeln, Plakate, Flugblätter und Filmmaterial aus Frankreich. Bilder dokumentieren gelenkte Heldenverehrungen wie im Fall Albert Leo Schlageter, der wegen „Spionage und Sabotage“ 1923 hingerichtet wurde. Der militante Aktivist hatte an Sprengstoffattentaten teilgenommen. Später wurde er von Nationalsozialisten in die NS-Ahnenreihe gestellt.
Die Ausstellung arbeitet auch heraus, dass der Reichsverband der Deutschen Industrie 1923 den Primat der Wirtschaft forderte. Der Acht-Stunden-Tag für Arbeitnehmer, der in der Revolution 1918/19 von Gewerkschaften erstritten wurde, sollte kassiert, Steuern erhöht und Staatsbetriebe geschlossen werden. Dass die Großindustrie erstmals zu Reparationsleistungen verpflichtet wurde, stellten die Großindustriellen dem „Parlamentarismus“ in Rechnung. „Willensstarke und zielbewusste Männer“ forderte der Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller in Zukunft. Perspektivisch ebneten die Erfahrungen aus der Ruhrbesetzung die Unterstützung Hitlers durch die Schlotbarone.
Erstmals sind für die Essener Ausstellung die Postkarten französischer Soldaten ausgewertet worden. Die Nachrichten an die Liebsten handelten von Heimweh, körperlichen Beschwerden, Probleme mit den „Boches“ und Langeweile, weiß der Historiker Benjamin Volff. Die alliierten Einheiten waren in Schulen, Hotels, Wohnungen, Turnhallen und Bauernhöfen einquartiert, Kontakte waren alltäglich. Frauen und Kinder versorgten sich teilweise in den Feldküchen der Franzosen. Gleichzeitig wurden Frauen auf Flugblättern diffamiert: Agnes, Paula und Martha „alle drei Säue treiben sich nachts mit Franzosen herum“. Die Vereine Rheinische Frauenliga und Deutscher Notbund erfanden Vergewaltigungsgeschichten, um die Besatzer zu diffamieren. Solche Propaganda baute auf der „Schwarzen Schmach“ auf. Im besetzten Rheinland nach dem 1. Weltkrieg waren Kolonialsoldaten stationiert. Sie wurden als schwarze Gorillas auf Plakaten dargestellt, die weiße Frauen missbrauchten. „Die Schande der Welt“ kam über Deutschland. Angst um das Deutsche Reich wurde geschürt, nicht um die Weimarer Republik. Selbst Satiremagazine wie der einst liberale „Kladderadatsch“ (Berlin) druckten rassistische Gräulpropaganda.
„Der Ruhrkampf“, wie die Besetzung in der Rückschau bezeichnet wurde, lieferte Material für Radikale. Selbst Verwaltungsleiter der Rheinisch-Westfälischen Industrieregion publizierten ab 1926 in ihren Städten Schriften, um die innerdeutschen Konflikte während der Besetzung zu verschleiern. In Dortmund titelte man „Unter französischen Bajonetten“.
Versöhnlich stimmte die Geschichte von Etienne Bach (1892–1986), der als Offizier und Pfarrer aus Elsaß-Lothringen 1923 in Datteln stationiert war und für Verständigung eintrat („Dattelner Abendmahl“). 40 Jahre nach der Besetzung kam er wieder nach Datteln. 1963 wurde der Élysée-Vertrag über die Zusammenarbeit der ehemaligen Feinde geschlossen.
Bis 27.8.; di – so 10 bis 18 Uhr; Tel. 0201/24681 444; Katalog im Klartext-Verlag 24,95 Euro;
www.ruhrmuseum.de