Es ist die längste Szene der Inszenierung „[BLANK]“ und die einzige auf der Bühne in der Schuld offen thematisiert wird. Was führte zum Drogenmissbrauch? Das Stück von Alice Birch ist kein Sozialdrama um eine Abhängige und die Folgen für ihre Familie. Davon gibt es genug. Die britische Dramatikerin hat 100 Szenen zu „[BLANK]“ geschrieben („Rohling“, dt. von Corinna Brocher), die von Gescheiterten handeln. Sozial und psychisch beschädigt geraten Frauen, Kinder und Familien mit Kontrollsystemen des Staates aneinander. Birch interessieren die Opfer, wie sie an Institutionen verzweifeln, sich um eigene Auswege bemühen, ihre Sehnsucht nach Zuneigung und Liebe ausdrücken. Die preisgekrönte Autorin schreibt fürs Theater und den Film.
In Bochum hat Regisseurin Nora Schlocker aus dem erzählerischen Konvolut Birchs monologische wie mehrstimmige Spielszenen, aber vor allem Dialoge und Zwiegespräche mit Kindern ausgewählt. Es sind weder Einakter noch lässt sich das dramaturgische Profil dem Theaterkanon zuordnen. Vor allem aber gelingt in den Kammerspielen eine dichte Folge intimer Intros zur Wirklichkeit von Minderjährigen, die in ihrer sozialen Not verloren scheinen. Ein Junge, der seine Mutter anruft, fordert Liebe. Ein Mädchen findet in der leeren Wohnung nur Knäckebrot. Wasser und Strom sind abgestellt. Ein Bruder gaukelt dem anderen vor, dass ihre Mutter arbeite und deshalb keine Zeit habe („Du bist am wichtigsten“). Tatsächlich sitzt sie im Gefängnis. „Wir sind einfach ein bisschen im Arsch“ heißt es einmal und akzentuiert den Sarkasmus, der einige Gespräche grundiert. Es wirkt authentisch.
Nora Schlockers Inszenierung fasst einen an. Statt auf expressives Agieren zu setzen, macht die Regisseurin das Verbindende in den Seelen der Opfer spürbar. Einsamkeit, Ohnmacht, Wut und Enttäuschung belasten die Kinder. Schauspielerinnen und Schauspieler tragen weiße Pappmasken. Sie wechseln die Figuren, vermischen als diverses Ensemble auch die Geschlechterrollen. Die Übergänge sind fließend. Trikotagen, Jogginghosen, Bodies und T-Shirts (Kostüme: Marie Caroline Rössle), die sie meistens tragen, sind unauffällig. Die Schicksale lassen sich nicht mit ihrem Aussehen verbinden. Ohnehin ist es Schlocker wichtig, erlittene Gewalt und ausgeübte Macht nicht Personen oder Gruppen zuzuordnen, sondern als festen Teil unserer Gesellschaft zu qualifizieren. Helfen müssen alle, ist ihre Erkenntnis. Auf der Bühne gelingt ein Grad an Abstraktion, ohne die diffizilen Fälle zu verharmlosen. Auch dem Publikum wird empfohlen, die ausgehändigten Masken zu tragen, um dem Konzept zu entsprechen.
Das achtköpfige Ensemble bewegt sich in einem hellwandigen Raum, der beweglich ist, aber auf drei Seiten geschlossen bleibt. Marie Roth (Bühne) verengt Gewalterfahrungen der Betroffenen zu einer Zelle ihrer selbst, die auch dem Kratzen und Schlagen einer Mutter standhält. Sie hat ihre Kinder getötet, damit die keinen Lebensschmerz mehr empfinden. Lautlos wird hier auch ein Baby unter einer Jacke erstickt – aus Eifersucht, da es so süß ist und eine Anteilnahme erfährt, die sein Entführer gern gehabt hätte. Diese Tat wiegt schwer.
Nora Schlockers Inszenierung führt das alles auf und vor, ohne zu schockieren. Die monströsen Varianten der Gewalttaten wird einem bewusst, weil sich die Vorgänge schrittweise im Spiel zeigen. Die sexualisierte Gewalt an einem verarmten Kind, das mal etwas „geschenkt“ bekommt. Die mehrfachen Vergewaltigungen einer Jugendlichen, die aus dem Apartment torkelt und ihrer Peargroup noch Alkohol plus Pillen mitbringt, verschafft dem Opfer weitere Anerkennung.
Deformationen, Verwahrlosung durch Drogenkonsum, Fehlhaltungen aufgrund von Angstzuständen und Belastungsstörungen werden als Körperanomalien auf der Bühne ausgestellt. Es spielen Friederike Becht, Konstantin Bühler, Victor IJdens, Risto Kübar, Anne Kulbatzki, Veronika Nickl, Ulvi Teke und Romy Vreden.
12., 13., 23. 5.; Tel. 0234/3333 5555; www.
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