Museum Marta zeigt den schwedischen Fotografen Anders Petersen

HERFORD - Der junge Mann schmiegt sich an die lachende Frau. Sein Oberkörper ist nackt, seine Augen sind geschlossen, man sieht die Tätowierungen auf seinem Arm. Das Schwarz-Weiß-Foto hält einen intimen, gefühlsgeladenen Moment fest. Hier zählt nur die Zärtlichkeit des Augenblicks.
Als Anders Petersen die Aufnahme machte, 1970 im Café Lehmitz auf der Reeperbahn, war er gerade 26 Jahre alt. Er hatte allerdings das Zutrauen der Stammgäste in der Stehbierkneipe gewonnen und wurde zum Chronisten ihres schäbig-romantischen Alltags. Aus den Aufnahmen von betrunkenen Huren, die am Tisch eingeschlafen waren, von tanzenden Gästen, von Berauschten und Enthemmten entstand 1978 ein Buch, das Geschichte machte. „Café Lehmitz“ prägte Sehgewohnheiten durch Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die Unmittelbarkeit und Nähe suggerierten durch die harten Kontraste, das grobe Korn, die Unschärfe. Hier traf die Subjektivität des Fotografen, der als Beteiligter seine Bilder machte, auf die Randgruppe.
46 Jahre später steht Petersen vor den Aufnahmen im Museum Marta in Herford und erzählt, wie er ins Café Lehmitz kam. Er hatte in St. Pauli eine Hure kennengelernt, die sich mit ihm dort verabredete. Er ging hin, man trank, man redete, man tanzte. Seine Kamera lag auf dem Tisch – und war irgendwann weg. Petersen entdeckte sie bei Gästen, die sie einander zuwarfen, sich damit knipsten. Er holte sie sich zurück, und war aufgenommen in diese seltsame Art von Familie. Wenn er die Bilder heute sehe, sagt er, sei er traurig, weil viele der Porträtierten nicht mehr leben. Schön ist das nicht unbedingt, was er zeigt, den Lederjackenträger, der einer Frau mit Bierflasche unter das Kleid greift. Die beiden Kerle mit nacktem Oberkörper mitten in der Kneipe, die sich aggressiv gegenüberstehen. All die Hormone und die Trunkenheit. Das eingangs beschriebene Bild ist das berühmteste des Buchs, es zierte das Cover von Tom Waits’ Platte „Rain Dogs“.
Das Marta zeigt von Sonntag an eine Retrospektive des schwedischen Fotografen, der zu den Meistern der Milieufotografie gehört. Rund 150 Aufnahmen belegen, dass er oft dahin ging, wo es weh tut. Er fotografierte in psychiatrischen Einrichtungen und im Gefängnis, aber auch auf den Straßen von Soho und im Freizeitpark „Gröna Lund“ auf einer Insel in Stockholm. Auf einem Foto sieht man ein nicht mehr ganz junges Paar beim Sex, sein Kopf an ihrem Hinterteil. Die Frau hatte ihn herbeigerufen, erzählt Petersen, dem zu jedem Bild eine Geschichte einfällt. Sie habe einen tollen Mann kennen gelernt. Die verstörend intime Aufnahme hat das Paar freigegeben – man sieht ja ihre Gesichter darauf nicht.
Petersen sucht Grenzsituationen, lichtet die junge Frau auf der Toilette ab, die in die Kamera lächelt, ein Schnappschuss, unscharf. Das „City Diary“, das Städte-Tagebuch, von 2012 stellt die junge Raucherin, die nackt auf der Küchenzeile posiert, neben die Nahaufnahme des älteren Mannes, dem Blut aus der Nase und über die Wange läuft. Die Wunden und Narben an Menschen rückt er ins Bild, man spürt das Staunen des Fotografen, was er alles erblickt. Neben der grausamen Ansicht eines Verletzten folgt dann ein poetischer Moment: ein Arm mit Futter, um den drei hungrige Spatzen flattern. Ein anderes Foto zeigt den Schneemann, den Petersens Sohn gebaut hat.
Er fotografiere wegen der Erinnerungen, sagt Petersen. Und er betont, dass er sich nicht als Berufsfotograf empfinde, „but I shoot all the time“.
Diese Bilder sind Grenzgänge, manchmal erscheinen sie zu nah, geradezu übergriffig, so dass sich der Betrachter wie ein Voyeur fühlt. Dabei betont Petersen, dass er Distanz brauche, einen Fuß in der Situation, aber einen außerhalb. Die Präsentation der Schau, einer internationalen Kooperation mit der Bibliothèque nationale de France, dem Fotografiska Museet Stockholm und der Pariser Galerie Vu, reagiert auf den rohen Charakter der Aufnahmen. Man hat Strecken mit klassisch gerahmten Abzügen, Vitrinen mit den Kontaktabzügen aus dem Café Lehmitz, aber auch plakatartige Prints, die collagenartig auf eine Wand arrangiert sind, als wäre dies ein gewaltiges Pinbrett.
Ein Wechselbad der Gefühle, ein Werk, das keinen kalt lässt.
Bis 12.3.2017, di – so 11 – 18 Uhr, Tel. 05221/ 99 44 300, www.marta-herford.de