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Mussets „Lorenzaccio“ am Schauspielhaus Bochum

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Von: Achim Lettmann

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Aufstand oder weiter so wird im Bochumer Schauspielhaus debattiert
Aufstand oder weiter so wird im Bochumer Schauspielhaus debattiert: In der Inszenierung „Lorenzaccio“ spielen Elsie de Brauw (von links), Mercy Dorcas Otieno, Jiaying Lin, Ann Göbel, Merle Bader, Stefan Hunstein, Hagen-Goar Bornmann, Mourad Baaiz und Jing Xiang. © Birgit Hupfeld

Aus Enttäuschung über die Revolution 1830 schrieb Alfred de Musset sein Stück „Lorenzaccio“. In Bochum hat Nora Schlocker eine Version vom Tyrannenmörder inszeniert.

Bochum – Alessandro lässt sich auf die Knie fallen, dann ins Hohlkreuz. Brust und Bauch hält er nackt dem Lorenzaccio entgegen, um ihm die Chance zu geben, zuzustechen. Aber der junge Mann weicht aus. Er wird ohnmächtig, als er den Degen führen soll. Gewalt ist nicht seine Sache. Das beweist Alessandro de Medici mit diesem kühnen Auftritt, der am Schauspielhaus Bochum in einem Glaskasten zur Schau gestellt wird. Ein Egomane führt die Stadt Florenz und entkräftet die Warnungen der Kirchenvertreter vor Lorenzaccio mit solcher Verve, als stehe er unter Speed. Dass die Titelfigur in „Lorenzaccio“ noch zum Mörder wird, davon handelt die Inszenierung in Bochum.

Alfred de Musset hatte „Lorenzaccio“ 1834 geschrieben. Der französische Dramatiker thematisierte darin seine Enttäuschung über die Juli-Revolution 1830 in Paris. Hinzu nahm er das Fragment der Schriftstellerin George Sand, die ihm ihren Text von 1831 geschenkt hatte. Musset siedelte die Geschichte im Florenz im Jahr 1537 an, wo Papst und Kaiser einen Stadthalter ernennen, der nur einer Seitenlinie der Medicis angehörte. Er war ihre Marionette, die die Machtfreiheit dann für eigene Vergnügungen nutzte, und den Stadtstaat weiter schädigte. Wie ein politisches Debakel zugunsten der Stadtbewohner beendet werden könnte, ist eine Frage, die Regisseurin Nora Schlocker und Dramaturgin Susanne Winnacker aufgegriffen haben. Beide interessiert die Pattsituation, dass ein System stabil bleibt, ohne dem Gemeinwohl zu dienen. Parallelen sieht Regisseurin Schlocker heute zu einer junge Generation, die resigniert, weil das Establishment Themen wie Klima, Umweltzerstörung und Rechtspopulismus nicht wirklich anpackt. Ihre Zukunft scheint verbaut, ihre politische Handhabe unzulänglich.

Um den Text aus dem 19. Jahrhundert greifbarer zu machen, haben Schlocker und Winnacker eine verkürzte Fassung des selten gespielten Stücks geschrieben. Raimund Orfeo Voigt (Bühne) gestaltet das Theaterhaus zum öffentlichen Platz um, wo Figuren und Publikum vor und hinter der Spielfläche in den gleichen Reihen sitzen. Als Lorenzaccios Mutter schiebt Jele Brückner duldsam und voller Sorge den Reifrock über die Bühne. Ihre Tochter Caterina (Ann Göbel) wird von Alessandro ebenso begehrt wie Luisa Strozzi – Jing Xiang würgt ihre Abneigung heraus – und Ricciarda Cibo, die Elsie de Brauw als gestandene Adelige gibt, die weiß, dass die Sprösslinge der Patrizierfamilien schon immer Jagd auf die Töchter Florenz’ machten. Einmal treten sie alle auf Alessandro zu und schreien ihre Ohnmacht heraus. Mit der Malerin Tebaldea haben Schlocker/Winnacker eine Frau dem Mussetschen Figurentableau hinzugefügt, das insgesamt reduziert wurde. Sie bietet Lorencassio die Stirn, will ihre Träume verwirklichen und keine Kurtisanen malen. Mercy Dorcas Otieno gibt der Renaissancekunst ein strahlendes Gesicht und wirkt mit ihrer taffen Haltung und dem Selbstverständnis, frei zu sein.

Stefan Hunstein fällt die Rolle des Republikaners zu, der als Filippo Strozzi mit humaner Haltung von Tugend und Sittlichkeit spricht, während ihn die Angst um seine Kinder an allem zweifeln lässt. Sohn Piero Strozzi ist festgesetzt, weil er aus Ehrgefühl zur Waffe griff. Mourad Baaiz fiebert blutbesudelt als kämpferischer Heißsporn durch den Bühnenraum. Er verkörpert auch das dramatische Potenzial, das der Musset-Stoff mitbringt.

In Bochum legt Regisseurin Nora Schlocker die Tatbestände nüchtern frei. Risto Kübar überträgt die Machtgier des Cardinal Cibo, der selbst Papst werden will, in ein bizarres Körperspiel mit gedehnten Sprechlauten, die ihn abseits stellen. Marchesa Ricciarda gesteht ihrem Mann den erzwungenen Ehebruch, das beiden die moralische Last anzumerken ist. Wie schwer ist es, aufrichtig für Menschlichkeit zu sein? Lorenzaccio will Caterina rächen und entwirft einen Plan, Alessandro zu ermorden. Dabei erheben Sängerinnen und Sänger auf der Bühne ihre Stimmen (Komposition Simon James Phillips), um mit vokalen Tonfolgen aufmerksamer zu machen. Das Spiel wird spürbarer.

Marius Huth gibt Lorenzaccio als flatterhafte Erscheinung in einer ruchlosen Welt. Wie soll sich der Spross der Medicis verhalten, dem eigentlich der Stadthalterposten zusteht? Knabenhaft unbeschwert streift Huth durch die Szenen. Seine Selbstanklage („Ich bin ein Hurenbock“) herrscht nur einen Moment, sein Plan („Ich werde Alessandro töten“) kann nicht wahr sein, lacht er über die eigene Courage. Mit Alessandro flippt er im Glaskasten aus, wo ihr Testosteron-Gebaren lächerlich wirkt. Ingo Tomi gibt einen Günstling der Macht mit rauschhafter Attitüde, der sich verführerisch gibt, bis er verlangt, was er will. Den iIllusorischen Augenblick seiner Idiotie nutzt Lorenzaccio und schickt ihn mit einer sinnlichen Umarmung in den Tod. Weshalb er kein Opportunist mehr sein konnte, bleibt offen. Die Republik wurde nicht ausgerufen. Florenz erhielt eine neue Marionette. Und in Bochum ist Lorenzaccio am Ende ganz allein. Viel Applaus.

26., 27.5.;

Tel. 0234/3333 5555; www.

schauspielhausbochum.de

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