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Live-Animationsfilm in Dortmund: „Der futurologische Kongress“

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Von: Ralf Stiftel

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Sie bewegen die Bilder und sprechen: Marlena Keil und Uwe Schmieder im „futurologischen Kongress“ in Dortmund.
Sie bewegen die Bilder und sprechen: Marlena Keil und Uwe Schmieder im „futurologischen Kongress“ in Dortmund. © Hupfeld

DORTMUND - Im Weltall. Unendliche Weiten. Der Kosmonaut Ijon Tichy koppelt sich eigenmächtig von der Raumstation ab, um das Modul mit seinem Quantenschaumexperiment zu retten. Wir sehen das Modell der Raumstation, den Stabpuppensternfahrer, die Schauspieler, die ihn führen. Und wir sehen zugleich das erstaunlich realistische Bild von dem Geschehen auf der Videoleinwand im Megastore.

Das Schauspiel Dortmund feierte die Premiere der letzten Produktion in der Ausweichspielstätte in Hörde. Bis zum Neustart im renovierten Schauspielhaus am Hiltropwall im Dezember gibt es keine neuen Produktionen. Man kann allerdings noch das Repertoire im Megastore sehen.

Das Medienkunst-Kollektiv sputnic um Nils Voges inszenierte einen Live-Animationsfilm nach Stanislaw Lems Roman „Der futurologische Kongress“. Wie schon in der gefeierten Produktion „Die Möglichkeit einer Insel“ erweisen sich die vier Darsteller als Meister des Multitasking, indem sie Papptafeln mit Zeichnungen von Julia Zejn vor die Videocams halten und mit Zügen zum Beispiel den Mund öffnen und schließen oder mit dem Auge zwinkern, wie man das aus Kinderbüchern kennt. Das erscheint groß auf der Leinwand, und die Darsteller sprechen dazu. Manchmal erscheinen sie auch selbst, wenn sie sich vor eine andere Kamera stellen. Und eine Reihe von Szenen spielen sie gleich live. Auf diese Weise ergibt sich eine aparte Mischung zwischen der sehr handgemachten Animations-Optik und Illusionselementen. Und T. D. Finck von Finckenstein spielt live auf der Bühne den Soundtrack. Natürlich ist das Leinwandbild unperfekt, verglichen mit einem wirklichen, geschnittenen Film. Aber dadurch, dass alles jetzt und hier geschieht, dass man das Bild und seine Produktion zugleich im Blick hat, entwickelt sich ein ungemein suggestiver erzählerischer Sog. Man glaubt diesen ungeschlachten, rauen Bildern viel lieber als seelenlosen Hollywood-Illusionen.

Zumal Lem in seinem 1972 erschienenen Roman geradezu erschreckende Visionen ausbreitet. Ijon Tichy wird nach seiner Weltraum-Eskapade zum futurologischen Kongress abgeordnet, den er mit seinem Freund besucht, dem Professor Trottelreiner. Dieser Kongress findet im fiktiven Costricana statt, einem Ort, der von bürgerkriegsähnlichen Demonstrationen erschüttert wird. Und hier kommen nun die fortgeschrittenen Mittel der Chemokratie zum Einsatz, Stoffe, die das Denken und Fühlen der Menschen steuern, einerseits „Benignatoren“ wie Hedonil, Euphorasol und Schmusium, die friedlich stimmen, aber auch Furiasol, Rabiat und Aggressium, die aufputschen. Aber schlimmer noch: Tichy und Trottelreiner haben den Kongress nur virtuell besucht, angeschlossen an eine Künstliche Intelligenz, in Gestalt eines Avatars. Und so stellt sich bald die Frage, ob das Geschehen real ist oder nur eine digitale Illusion. Vielleicht ist die Desorientierung aber auch eine Folge von Maskonen, Aerosolen, die ebenfalls zu halluzinatorischen Wahrnehmungen führen. Das erinnert an den Film „Matrix“, wurde aber deutlich eher geschrieben.

Die vier Schauspieler wechseln virtuos zwischen den Handlungsebenen, allen voran Frank Genser, der wenige Tage vor der Premiere für den erkrankten Kollegen Carlos Lobo einsprang, unter anderem in der Rolle des Ijon Tichy. Wie er zum Beispiel die gelbe Ratte animiert, die durch die Tücken des Computers sein Avatar wird, ist ein Kabinettstück. Marlena Keil wechselt in Sekunden zwischen der Rolle der US-Botschafterin (mit Klebeband-Lippen) und des US-Reporters Haynes (mit norddeutschem Zungenschlag). Furios die Szene, in der sie Tichy spielt, der einer Bombe zum Opfer fiel und nun im Körper einer Frau reanimiert wurde, wie sie sich vor die Brust schlägt und empört ruft: „Ich will hier raus!“

Uwe Schmieder ist großartig als Trottelreiner mit immer neuen, immer abgefahreneren theoretischen Vorträgen. Und Friederike Tiefenbacher spielt alles, von der Stewardess bis zur lesbischen Mutter. Großer Beifall.

18., 28.6., 7.7.,

Tel. 0231/ 50 27 222,

www.theaterdo.de

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