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Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ am Schauspielhaus Bochum

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Von: Achim Lettmann

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Gespräche im Hause Protassow: Lisa (Anne Rietmeijer) vertröstet Boris (Dominik Dos-Reis), Pawel (Guy Clemens) redet dem Schlosser (Michael Lippold, rechts) ins Gewissen.
Gespräche im Hause Protassow: Lisa (Anne Rietmeijer) vertröstet Boris (Dominik Dos-Reis), Pawel (Guy Clemens) redet dem Schlosser (Michael Lippold, rechts) ins Gewissen. „Kinder der Sonne“ am Schauspielhaus Bochum. © Matthias Horn

Am Schauspielhaus Bochum wird Maxim Gorkis Stück „Kinder der Sonne“ gespielt. Die Regisseurin Mateja Koleznik überzeugt mit ihren feinsinnigen und zeitlosen Figurenporträts.

Bochum – Die Tür zum Labor ist weiß. Ein kleines Waschbecken hängt im Flur der Protassows. Zum Publikum öffnet sich die Wohnetage mit Sofa, Tisch und Sesselstuhl. Es soll der gemütliche Teil im großen Haus sein. Schon die Einrichtung zu Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ setzt ein bürgerliches Maß im Schauspielhaus Bochum (Bühne: Raimund Orfeo Voigt). Für die Menschen in Mateja Kolezniks Inszenierung wird der behauste Ort ein Durchgang zu neuen Horizonten.

Gorki reagierte mit seinem Stück „Kinder der Sonne“ auf den Blutsonntag 1905 in St. Petersburg, als eine Petition an den Zaren zu wüsten Erschießungen der Menschen auf offener Straße führte. Der Dramatiker platzierte seine Hausgesellschaft in eine ländliche Region, wo es Jahre vorher einen Cholera-Ausbruch gegeben hatte. Er wollte der Zensur zu entgehen. Regisseurin Koleznik vermeidet jeden Bezug zur Coronapandemie unserer Zeit und Hoffnungen, dass Russland alsbald einen Umsturz von innen erfährt. Ihr Theater scheint nichts zu fordern.

Im Haus ist es ruhig. Mateja Koleznik aus Slowenien ist für ihre psychologisch präzisen Inszenierungen bekannt. In Bochum gelingt ihr ein atmosphärisch feinsinnig entwickeltes Gesellschaftsstück, das nicht in Figurentableaus schwelgt, sondern jede einzelne Rolle beleuchtet, um die persönliche Dimension politischer Veränderungen spürbar zu machen. Immer wieder treten die Figuren ganz für sich auf, bevor sie im Dialog ihr Gefühl und ihre Überzeugung zur Disposition stellen. Lisa tanzt zur Radiomusik und zieht sich innerlich zurück, wenn Boris um ihre Liebe wirbt. Hausherr Protassow probiert im Privatlabor, das Geheimnis des Lebens zu knacken. Guy Clemens spielt diesen Pawel mit Forscherdrang, der seine Zielstrebigkeit einbüßt, wenn er Jegor die Schläge gegen die eigene Frau ausreden soll. Als Arbeiter reagiert Jegor seinen Unmut in der Familie ab. Gewalt ist im Hause Protassow keine Lösung mehr. Gleichzeitig baut der Schlosser Jegor dem Chemiker Pawel wichtige Versuchsgeräte. Man ist aufeinander angewiesen. Die Klassengesellschaft manifestiert zivile Unterschiede. Michael Lippold lässt uns im wortkargen Jegor den Mann erkennen, der sich verachtet fühlt. Er wird später die Aufständischen führen.

Dass Pawel als Ehemann wie auch als Bruder der geistig labilen Lisa versagt, ordnet sich in einen Alltagsverlauf, der zu Aussprachen führt, ohne die Konflikte zu dramatisieren. Leben ist hier ein Prozess, fortlaufend und unumkehrbar. Die reiche Witwe Melanija wirbt um Pawel bis zur Selbstaufgabe. Jele Brückner spielt sie hilflos den eigenen Gefühlen ausgeliefert. Von Liebe erfüllt, wird ihre erste Ehe nachträglich als Versorgungsakt entlarvt. Von nun an empfindet sie Emotionen, die ihr bisher fremd waren. Es ist für die einfältige Frau eine Menschwerdung. Herrlich ist, wie Melanija alles verspricht, nur um Pawel lieben zu dürfen. Weder kitschig, noch albern wirkt das, und Jele Brückner gelingt dieses aufrichtige Schaustück selbst, als sich Melanija Pawels Frau Jelena anvertraut, die mit dem Künstler Dmitri eine Liason hat. Man offenbart sich.

Im Vergeblichen liegt immer etwas Humor, den Regisseurin Koleznik nur ganz dosiert zulässt. „Kinder der Sonne“ ist nicht auf tragikomisch getrimmt, sondern entfaltet den Augenblick, wenn etwas wie zum ersten Mal empfunden und fortan zur Persönlichkeit eines Menschen zählen wird. Unprätentiös und beiläufig gelingt das, wenn Dienstmädchen Fima die Avancen der Männer mit Rubel-Forderungen kontert und den Hausmeister (Alexander Wertmann) auf Distanz hält. Amelie Willberg zeigt sie spröde, mit wachsendem Eigensinn und bereit, mit Posen bei der Arbeit, ein Angebot vom Vermieter Awdejewitsch einzuholen. Erfolglos bleibt er allerdings auch bei Pawel, dem er ein Ferienhaus für ausstehende Mieten abluchsen will. Der Kapitalist macht Boden gut. Konstantin Bühler gibt den Vermieter selbstgefällig und mit der nötigen Arroganz, ausschließlich mit Geld zu operieren. Echte Gefühle, Fehlanzeige. Dazwischen präsentiert Karin Moog das Kindermädchen wie einen Turm im Haus, der für Ordnung steht. Selbst das hat seinen Witz.

Das Ensemble spielt ausgeglichen und auf hohem Niveau. Anne Rietmeijer zeigt Lisas seismographische Empfindung, humane Defizite zu vermelden („Jeder ist hilflos und einsam“). Als sie gewahr wird, dass sich Boris (Dominik Dos-Reis) wegen ihrer Zurückweisung selbst getötet hat, gerät sie in Not und wird von allen umringt, geschützt vor sich selbst.

Anna Blomeier spielt Jelena als eine Frau, die ihren Selbstwert erkennt, die sich mit Mann Pawel ausspricht, emanzipiert und Dmitri küssend verabschiedet. Er wollte einen Film mit ihr drehen. Victor IJdens verkörpert die Ich-AG im Stück. Er ist aber kein Luftikus, der als Künstler mit Handkamera die Grande Dame verführen will. Auch diese Figur hat ein aufrichtiges Anliegen und sorgt dafür, dass „Kinder der Sonne“ von einer großen Liebe zu Menschen getragen wird. Im Schlussbild sind Aufständische durchs Fenster zu erkennen, Blut fließt hier nicht.

Mateja Kolezniks Regiearbeit bringt einen dazu, diese Figurenporträts zu genießen. Ihre Menschen befinden sich auf dem Weg zur Moderne. Von Russland aus.

15., 30.10.; 5., 9., 12., 17.11.; Tel. 0234/3333 5555; www. schauspielhausbochum.de

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