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Johan Simons inszeniert „König Lear“ am Schauspielhaus Bochum

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Von: Ralf Stiftel

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Ein Verlorener, der wüten kann: Pierre Bokma in der Titelrolle von „König Lear“ in Bochum. Fotos: JU Bochum
Ein Verlorener, der wüten kann: Pierre Bokma in der Titelrolle von „König Lear“ in Bochum. Fotos: JU Bochum

Bochum – Intendant Johan Simons beginnt die Spielzeit am Schauspielhaus Bochum mit „König Lear“. Keine schlechte Wahl. Ein Stück über den Verfall des Staates, den Verlust des Vertrauens, den nackten Wahnsinn passt in die Zeit der Pandemie, die alle Sicherheiten auflöst. Und bei Simons ist Shakespeares Tragödie ein Höllenritt durch die Abgründe des Irrseins.

Pierre Bokma verkörpert den Herrscher, der die Katastrophe auslöst, weil er eigentlich die Staatsangelegenheiten gut regeln möchte. Sein Reich soll unter den drei Töchtern aufgeteilt werden. Sie versichern ihm ihre Liebe und bekommen die Macht. Er hat nur die Rechnung ohne die menschliche Bosheit gemacht. Die beiden redegewandten älteren Schwestern kündigen die Abmachung auf, die treue, aber spröde Cordelia wird verstoßen. Und bald steht der König nackt und besitzlos da.

Bokma macht aus Lear eine faszinierend sprunghafte Figur. Mal schreitet er als ganz rationaler Politprofi über die Bühne, weist auf den Dreckhaufen, der statt der Karte das Reich abbildet, teilt drei Hügel als Erbe der ersten Tochter zu. Aber dieser souveräne Patriarch kann komplett ausrasten, sobald ihm Cordelia nicht nach dem Mund redet. Später wechselt er von explosiven Wutausbrüchen in abgrundtiefe Verzweiflung, peitscht die Wände, wütet in so wilden wie hilflosen Schimpftiraden gegen die gemeine Krähe, das Wolfsgesicht, die naturwidrigen alten Hexen von Töchtern, sitzt dann wieder im über ihn geschütteten Kehricht wie ein Kind im Sandkasten. Was Weisheit, was Verwirrung ist, Bokma sorgt dafür, dass wir daran irre werden. Aber immer schwelgt er in den Wendungen des Absurden, und gerade wenn die Verzweiflung am größten ist, kommt er mit absurdem Spaß um die Ecke. Einmal hoppelt er in einer Reiterpantomime über die Bühne und schnalzt dazu wie ein „Ritter der Kokosnuss“. Der „König Lear“ ist eins der schwärzesten Dramen von Shakespeare. An diesem Abend erlebt man, dass es zugleich ein unglaublich verspielter Text ist, ein bisschen surreal, ein bisschen Beckett, ein bisschen Monty Python. Da knallen sie mit den Türen bei ihren Wutabgängen gleich dreimal. Mal schwelgen die trostlosen Verstoßenen in der Heide in „Ohlalala“, und Anna Drexler setzt noch den Schlagertitel „C‘est magnifique“ drauf. Mal spult Konstantin Bühler als verstoßener Sohn Edgar in seinen Tiraden gegen den „fiesen Feind“ eine Suada von abstrusen Alliterationen ab. Die Neuübersetzung von Miroslava Svolikova bietet dafür feinstes Futter.

Simons hat extrem reduziert. Zehn Rollen bleiben vom ursprünglichen Tableau, die Herzöge, der treue Kent: alle gestrichen, beziehungsweise ihr Text auf die Verbliebenen aufgeteilt. Daraus ergeben sich einige Unschärfen und Logiklöcher. Die bösen Töchter Goneril (Mourad Baaiz) und Regan (Michael Lippold) werden von Männern verkörpert und nehmen ein Stück weit auch die Rollen ihrer Ehemänner in sich auf. Und Stefan Hunstein als stoisch unerbittlicher Vollstrecker Oswald spielt nach seinem Bühnentod einfach weiter, als mörderischer Offizier ist er unverwüstlich.

Johannes Schütz hat die Bühne mit einer weißen Wand geteilt. Hinten ist eine Art Wartezimmer, in dem die Schauspieler auf ihre Auftritte warten. Die Bilder einer rotierenden Kamera (Video: Lennart Laberenz) projizieren diese Hinterbühnenszenerie in Schwarzweiß auf die weiße Front. Manchmal spielen Akteure vorn mit Großaufnahmen auf der Wand. Es ist eine Möglichkeit, mit dem coronabedingten Abstand umzugehen. Und Liebe hat hier ohnehin keinen Raum. Präzise auch die Lichtregie: Wenn Gloster (Steven Scharf) geblendet wird, wechselt das Licht, die Projektionen verblassen, gleißende Helligkeit schneidet die Wand aus dem sonstigen Dunkel. Absurderweise durchschaut der treue Höfling erst jetzt, dass auch er auf das falsche Kind setzte, den ehrgeizigen und skrupellosen Edmund (Patrick Berg). Böse wird hier mit den Vätern Lear und Gloster abgerechnet. Nicht alles darf hier auf die Kappe der Niedertracht undankbarer Kinder gehen. Auch die Alten haben ja ihren Anteil, weil sie sich allzu leichtfertig haben beschwatzen lassen.

So führt Simons in seiner dreistündigen Inszenierung durch Abgründe an Schlechtigkeit, durch emotionale Wechselbäder und immer wieder zu Momenten der Launigkeit. Dem Finale nimmt er die Schwärze, indem er sozusagen einen doppelten Boden einzieht. Anna Drexler übernimmt dann neben ihren Rollen als Cordelia und Narr auch noch die Kontrolle. Sie beginnt, die Regieanweisungen zu sprechen. Beim Duell zwischen Edmund und Edgar stehen die Männer, und Drexler fegt wie ein Irrwisch über die Bühne, eine Stellvertreterin des wilden Streits. Und selbst als sie tot daliegt, hebt sie immer wieder den Kopf, um Lear anzusagen, was folgt.

Im gefühlt fast leeren Schauspielhaus langer, dankbarer Beifall.

12., 13., 18., 19., 20.9., 8., 9.10.,

Tel. 0234 /33 33 55 55, www. schauspielhausbochum.de

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