1. wa.de
  2. Kultur

Ivo van Hove: „Ein wenig Leben“ bei den Ruhrfestspielen

Erstellt:

Von: Achim Lettmann

Kommentare

Gezeichnet vom Trauma des Missbrauchs: Jude (Ramsey Nasr) fügt sich Verletzungen zu. Szene aus dem Stück „Ein wenig Leben“ bei den Ruhrfestspielen. Foto: versweyveld
Gezeichnet vom Trauma des Missbrauchs: Jude (Ramsey Nasr) fügt sich Verletzungen zu. Szene aus dem Stück „Ein wenig Leben“ bei den Ruhrfestspielen. Foto: versweyveld

Recklinghausen Die Freunde tragen Jude gemeinsam, er muss behandelt werden. Seine Arme zeigen blutige Schnittwunden, seine Knie sind beschädigt und sein Kopf hat den Sturz von einer Feuerleiter ausgehalten. Jude war von dem Sadisten gestoßen worden, der ihn immer wieder missbraucht, geschlagen und erniedrigt hatte. Ein bestialischer Gewaltakt.

Es lässt sich kaum alles benennen, was die Inszenierung von Ivo van Hove zum Leid des Jude St. Francis aufführt. „Ein wenig Leben“ ist eine der großen Produktionen bei den Ruhrfestspielen, die in der Theaterwelt Beachtung findet. Die Koproduktion mit dem Internationaal Theater Amsterdam hatte im Festspielhaus Recklinghausen Deutschlandpremiere. Der gleichnamige Roman von Hanya Yanagihara ist ein Bestseller, der die Leiden eines Menschen aufdeckt, die trotz Narben nur schwer zu erkennen sind: das Trauma des Missbrauchten. Was bedeutet es für ihn?

Behutsam gehen die Männer mit Judes Körper um, sie sind achtsam, aufmerksam und sogar voller Liebe. In van Hoves Inszenierung zu „Ein wenig Leben“ steht dieses Bild für die Vision von einer Gesellschaft, die sich um Missbrauchte Menschen kümmert, ihr Schicksal begreift, sie anerkennt und integriert. Heute hört das öffentliche Interesse meist auf, wenn die Täter gestellt und die Fehlleistungen in Institutionen, Behörden und Familien beklagt sind. Wie Menschen durch den Missbrauch verändert, wie sie fürs Alltagsleben und soziale Miteinander beschädigte wurden, fällt immer noch in eine Tabuzone.

Yanagiharas Roman (von 2015) und van Hoves Inszenierung öffnen die Trauma-Erfahrung, in dem sie mit ihren Erzähltechniken in die Hölle des Missbrauchs vorstoßen. Dabei lassen sie Täter und Helfer sprechen und handeln. Der Zuschauer im Theater erhält die Gewissheit, ein geführtes Spiel zu erleben, das ihn nicht mit Grusel, Ekel und Martyrium allein lässt. „Ein wenig Leben“ ist kein Horrortrip.

Die Bühnenfassung (Koen Tachelet/Ivo van Hove) bietet ein zeitlich verdichtetes Stationen-Drama, das das Leben des Juristen in New York umspannt. Und zur Wahrheit dieses intensiven wie ergreifenden Theaterabends zählt auch die bittere Erfahrung, dass Jude nicht zu helfen ist – trotz Freunde.

Am Anfang zeigt Ivo van Hove vier junge Männer, alles Glückssucher im Big Apple. Sie haben auf Jan Versweyvelds offener Bühne ihre Apartment-Ecken mit Liegesofa, Bilderwand und Zeichentisch. Hier diskutieren, streiten und kochen sie. Malcolm (Mandela Wee Wee) will Häuser bauen, Schauspieler Willem (Maarten Heijmans) braucht eine Rolle, JB ist Künstler und wird von Majd Mardo ein bisschen selbstverliebt und aktionistisch gezeigt. Jude St. Francis dagegen wirkt bei Ramsey Nasr ruhig und abwartend, ein Typ, der seine Vorzüge kennt und auf den Moment wartet. Aber warum spricht er nicht von Frauen, was ist mit seinem Arm, warum geht er so komisch? JB will mehr wissen von einem Freund. Seine Fotografie „Jude nach Krankheit“ bringt Streit. Jude fühlt sich schlecht, als er sich auf dem Foto sieht. Aber das MoMA ist interessiert.

Das Spiel in Recklinghausen dreht sich alsbald wie eine Introspektion in Judes Kopf, wo die Missbrauchserfahrungen verkapselt sind. New Yorker Straßenbilder laufen als Endlosvideo (Thewessen/Versweyveld) über eine Bühnenseite und sind gestört, wenn Judes Trigger (Auslöser) anschlagen, bis die Welt für ihn nicht mehr zu deuten ist. Nervige und schrille Töne sind dann vom Bl!indman-Quartett zu hören, Zirpen, Herzklopfen, Geräusche, die drohen. Es ist ein Soundtrack wie zu einem Thriller, der vor allem Judes Verfassung hörbar machen will. Was geht in ihm vor?

Wenn Jude zur Rasierklinge greift, sich ritzt, reagiert er auf Luke (Hans Kesting), der den zwölfjährigen Jungen missbrauchte und zum Sexarbeiter gemacht hat. Der Ordensbruder ist seine Bezugsperson über den Missbrauch hinaus. Jude erzählt, dass Luke ihm ein besseres Leben in Aussicht stellte – mit eigenem Häuschen, wenn er 16 Jahre alt ist. Bis dahin musste der Schutzbefohlene alles tun, Fellatio mit fettleibigen Männern, Zungenküsse mit Luke, dessen Kaffeespeichel Jude immer noch schmeckt.

Als der brutale Caleb auftaucht und Judes Schwäche erkennt, ist auch Ana (Marieke Heebink) da und sagt: „Schick ihn weg“. Aber Jude erliegt der perfiden Nötigung, weil er den Zwang gelernt hat. Luke nannte Jude „Joey“ und: „Du bist ein Monster.“ Judes Selbstvorwürfe, an allem Schuld zu sein, kann sein Verstand nicht mehr tilgen.

„Ein wenig Leben“ ist die extreme Vita eines Waisen, der in der Obhut von Kirche und staatlichen Heimen immer wieder an brutale Täter geriet. Die Inszenierung ermöglicht dabei Einsichten in Trauma-Abläufe. Als Malcolm seinem Freund vorschlägt, ein Haus zu bauen, klingt das „Häuschen“ an, das Luke als Vorwand brauchte. Willem, der sich in Jude verliebte, will mit zärtlichem Beischlaf helfen. Es wird geknutscht, der Schlüppi fliegt, aber zu einem Happyend führt das nicht. Jude spürt nichts und funktioniert nur – wie damals. Auch die Wut der Freunde, wenig auszurichten, wird transportiert.

Einmal singt Ramsey Nasr, der Judes Hilflosigkeit und Erschöpfung beängstigend viele Seiten gibt, „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Mahlers Komposition gewinnt hier eine neue Tiefe.

Aber Jude muss leben, das Haus bauen, im Rollstuhl sitzen, Willem durch einen Unfall verlieren. Dann macht er selbst Schluss. Selten sind im Theater Tragik und Trost so überwältigend. Das Premierenpublikum applaudierte minutenlang im Stehen.

Auch interessant

Kommentare