Houellebecqs „Plattform“ und „Unterwerfung“ am Schauspielhaus Bochum

Bochum – Michel verzweifelt am Leben. Ja, wie sich eine harte Brustwarze anfühlt, das versteht er, aber ein Bikini aus Latex und Polyurethan? Nein, wie entsteht dieser Stoff und fühlt sich das an? Am Schauspielhaus Bochum stellt Stefan Hunstein die Figur aus Michel Houellebecqs Roman „Plattform“ zu einem dauergeilen Versager ausgestellt, dem ein Job im Kultusministerium in Paris und eine erfolgreiche Touristik-Managerin nicht helfen, sein Glück zu machen.
Die Inszenierung von Johan Simons startet mit der Katastrophe, die nach Houellebecq unausweichlich ist, wenn Sex-Touristen auf Islamisten treffen. Krachend fallen Matratzen, Plastikstühle, Regalteile, Zimmerpalmen und Klamotten auf die Bühne des Schauspielhauses. Ein Terroranschlag im Club „Eldorador Aphrodite“ – 117 Tote, und Michels angebetete Valérie zählt auch dazu.
Vor einem Haufen Zivilisationsmüll trägt Michel seine Valérie, das Licht wird aufgedreht, und er küsst sie wach. So blickt die Bühnenfassung von Tom Blokdijks nun mit der Distanz des Geschehenen auf Houellebecqs Roman (2001) zurück. Viel Prosatext ist zu hören und macht das Spiel anfangs statisch. Valérie („meine Brüste haben sich nicht verändert seit ich 17 bin“) wird von Karin Moog als taffe Frau und Männertraum im kurzen Rock gezeigt. Sex ist Lebensinhalt („er hat schon wieder einen Steifen“), wird beiläufig beim Schuhe anziehen verquasselt und präzise wie ergebnisorientiert beschrieben – auch als SM-Praktik, wenn Touristen auf spezielle Befriedigung aus sind. Für Valérie ist das ein Verkaufsargument. Ihr neues Sex-Club-Konzept wird ein Erfolg. Die deutsche Tui steigt ein. Und obwohl Valérie zupackt, Matratzen schiebt und das Bodenbild von der urbanisierter Landschaft freilegt (Bühne: Bert Neumann), bleibt dieser Schaffensdrang prekär. Dass vom Leben überdrüssige Westeuropäer mit Thai-Mädchen pauschale Sexabenteuer buchen können, forciert ein Unbehagen, mit dem die Inszenierung gekonnt spielt.
Johan Simons richtet Houellebecqs Kapitalismuskritik wie eine ethische Schauergeschichte ein, bei der Orientierungen überprüft werden. Als Michel die junge Aisha kennenlernt – sie war das willige Hausmädchen seines Vaters –, tritt Mourad Baaiz in einem orangenen Kleid auf und macht dem weißen Mann Avancen. Ein bisschen tuntig spitzt Baaiz das Rollenspiel zu. Seine Aisha bleibt erfolglos, aber amüsiert. Ohne Zukunft sind auch das Paar Audrey und Jean-Yves. Valéries Chef hat die falsche Frau, und Guy Clemens spielt ihn als tragischen Helden, der seine sexuelle Erweckung zwischen zwei Matratzen bildlich vorran treibt. Solche Slapstick-Einlagen tun gut – Mercy Dorcas Otieno als Audrey zerkloppt einen Tisch und dann doch nicht ihren Mann. Bis Yassin das Wort ergreift. Lukas von der Lühe steht als Islamist auf der Bühne – oder deutscher Neonazi – und spricht von Gewalt, wie Skinheads einen 60-Jährigen totschlagen, was der Bandenkrieg in Paris anrichtet. Es ist die Realität, die Angst macht und im Schauspielhaus die Illusionen raubt. Yassin bricht genüsslich jedes Bein einzeln aus dem Plastiktisch. Jeder kennt solche Tische. Und Johan Simons zerrt an den Nerven des Publikums, auch wenn bittersüß Harry Belafontes „Island in the Sun“ erklingt.
Nach der Analye zum westlichen Moral- und Kulturverlust geht Johan Simons mit „Unterwerfung“ (Bühnenfassung von Jeroen Versteele) noch einen Schritt weiter. In Houellebecqs Roman (2015) wird ein Araber französischer Präsident, weil die Parteien nur so Marine Le Pen verhindern können. Zu dem Bühnenmüll aus „Plattform“ werden ein paar Sitzelemente geschoben. Aus der rotleuchtenden Lichterwand schaut immernoch eine Afrikanerin auf die Gesellschaft, die Figuren wie Francois bevorteilt. Stefan Hunstein gibt erneut einen mittelalten, runtergekommen Atheisten, der sich über Frauen und Sex definiert. Hunstein jammert sogar noch selbstmitleidiger („Ich bin allein und voller Risse“), ist verzagt, weil seine Ex-Freundin nach Israel den jüdischen Eltern folgt. Alles ändert sich in Frankreich. Und die Inszenierung macht sich eine ambivalente Freude daraus, zu zeigen, wie Profiteure für den Islam gewonnen werden. Francois erhält eine üppige Pension, sein Kollege wird befördert und darf mehrere Frauen ehelichen. Herrlich gewieft, freundlich und selbstgewiss zugleich legt Mourade Zeguendi den Uni-Direktor Rediger an. Ein Charmeur, wenn er ins Publikum flirtet oder die heilige Waschung beaufsichtig. Konvertieren tut nicht weh, ist seine Botschaft!
Francois wird klar, dass Religion noch etwas anderes ist. In der Liebe versagt zieht er sich nun um, reiht sich ein, sitzt bei seinen Theaterkollegen und wird Teil eines internationalen Teams, das in Bochum zusammen arbeitet. Viel Applaus dafür!
Doppelvorstellung 27. 1., 17. 2.; „Plattform“ 29. 1., 7. 2.; „Unterwerfung“ 30. 1., 8. 2.; Tel. 0234/3333 5555; www.schauspielhausbochum.de