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Hendrik Otremba erkundet im Roman „Benito“ Fragen von Ästhetik und Widerstand

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Von: Ralf Stiftel

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Hendrik Otremba, Schriftsteller
Beschreibt eine Suche im Ruhrgebiet: Autor Hendrik Otremba. © Max Zerrahn / März Verlag

Der Auftritt im Bonner Hotel Paradies fällt auf. Mitten in den Empfang des Deutschen Wirtschaftskomitees platzt ein Maskierter mit einer Automatikwaffe, der ununterbrochen in die Menge feuert. Seltsamerweise wird aber niemand verletzt. Die Waffe ist eine Attrappe. Nur der Täter stirbt, nachdem er sich mit Gel eingeschmiert und entzündet hat. Dann erschießt ihn die Antiterrorgruppe der Polizei.

Hendrik Otremba nimmt etwas Anlauf, bis er zum Knalleffekt kommt, der seinen Roman in die Spur bringt. Ein Anschlag? Beim Empfang sind prominente, deren Namen als hübsche Spielerei geschwärzt sind. Aber man erkennt den betagten Ex-Bundeskanzler mit seiner neuen Verlobten, die ehemalige Verteidigungsministerin und den Fernsehmoderator trotzdem. Der Ich-Erzähler läuft leicht neben der Spur, ein Schriftsteller in einer Lebenskrise, der drei Jahre lang nach Italien geflohen war und wieder seine Seminare aufnimmt. Er war zum Empfang eingeladen. Und er erkennt den (Nicht-)Attentäter, der niemanden verletzte außer sich selbst. Es ist Benito, ein Kamerad aus Kindertagen. Sie gehörten beide zu den „Schwarzen Steinen“, einer Pfadfindergruppe. Benito hinkt. Und er ist blind.

Otremba, Autor, Kurator, Sänger der Gruppe „Messer“, stattete den Ich-Erzähler mit dem Pfadfindernamen Cherubim mit autobiografischen Zügen aus. Sie teilen das Geburtsjahr 1984, die Herkunft aus Recklinghausen, das Schreiben, den Universitätsjob. Der Roman „Benito“ ist fest in der Realität des Ruhrgebiets verankert, zugleich öffnet er sich in phantastische Sphären. Es ist die Geschichte einer psychischen und ästhetischen Eskalation.

Zwei Handlungsstränge werden verflochten, und die vielen Szenenwechsel zwischen den Jahren 1995 und 2026 irritieren anfangs. Da ist in der nahen Zukunft das „Bonner Ereignis“, das Rätsel aufgibt, und seine Folgen. Und da ist ein Ausflug der „Schwarzen Steine“ mit Kanus auf einem Fluss, ein Abenteuer, das katastrophal endet und folgenschwere Traumatisierungen hinterlässt. Der blinde Benito entwickelt als Kind Züge eines Visionärs, eines blinden Propheten, der auf eine apokalyptische Zukunft der Menschheit blickt. Der Überfall wiederum löst nicht nur eine Flut medialer Berichterstattung aus, die Otremba mit der nötigen Schärfe persifliert. Auch der Ich-Erzähler folgt den Spuren der Schwarzen Steine in der Gegenwart, denn die Gefährten aus Kindertagen haben Benito bei seiner Inszenierung geholfen. Und eine Inszenierung ist der Überfall, eine Performance in der Nachfolge des Theaters der Grausamkeit von Antonin Artaud. Ohne den Begriff „Klimaterroristen“ zu verwenden, beschreibt Otremba eine gegenüber den Klebern um einige Stufen radikalisierte Protestaktion. Die gedankliche Tiefe, mit der der Autor verschiedenste Formen des Aktionismus nachzeichnet und bedenkt, von den Surrealisten um Breton über den Una-Bomber und die Schul-Amokläufern von Columbine bis zu Andrei Tarkowskis Film „Nostalghia“, lässt die politischen Empörungsreflexe banal und bösartig wirken.

Schnell könnte eine solche Schreibabsicht in langweilige Politprosa münden. Otremba umgeht diese Gefahr, indem er auf Stilmittel des Expressionismus und der Nachkriegsliteratur zurückgreift, namentlich das Frühwerk Arno Schmidts. Wenn der Erzähler im Ruhrgebiet menschenleere Brachen, eine „Geisterkolonie“, durchstreift und darin ein Geheimversteck findet voller Bücher und Schallplatten, ein Vorratsdepot für Kultur-Prepper, dann klingen Erzählungen wie „Schwarze Spiegel“ nach. Und wenn die Pfadfinder nach dem Tod ihres Anführers in eine bizarre Landschaft kommen, bevölkert von einem bizarren Puppenbauer und einem Pilzzüchter im Bunker, dann verlassen sie die reale Welt. Solch visionäre Abschweifungen beglaubigen Otrembas eigenwilligen Sound, einen anachronistischen Erzählton wie aus Märchen, der dann auch die überschwänglichen Beschwörungen der Apokalypse bei Benito vor unfreiwilliger Komik rettet. Mit dieser Öffnung kann Otremba die Gefahren ansprechen, die die Figuren zum Handlungszeitpunkt nicht kennen können, wie die globale Erwärmung und Viren. Und er kann die Jungs 1995 einer Flüchtlingsfamilie begegnen lassen, die keine Zuflucht bei hartleibigen Dörflern findet.

Otremba beschwört in diesem Roman geistige Räume um Musiker, die ein Klangideal definieren, Autoren, die die „Zerstörung der Welt durch die menschliche Zivilisation“ beobachten. Und ihm gelingen grandiose Bilder, sei es aus einem verfallenden Ruhrgebiet, wo ein Kraftwerk zum „schlafenden Drachen“ wird, sei es aus dem Bunker, in den die Pfadfinder geraten: „Sie fühlten sich von den Kellerasseln, den flinken Kakerlaken, den Silberfischen und den pulsierenden Würmern beobachtet…“

Hendrik Otremba: Benito. März Verlag, Berlin. 504 S., 28 Euro

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