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Elfriede Jelineks Querdenker-Stück „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen“ in Essen

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Von: Ralf Stiftel

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Alexey Ekimov, Ines Krug und Stefan Diekmann in „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ am Schauspiel Essen.
Die Zauberin Kirke bereitet ihre Opfer vor: Alexey Ekimov, Ines Krug und Stefan Diekmann in „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ am Schauspiel Essen. © Martin Kaufhold

Essen – Misstrauisch fragt Silvia Weiskopf nach den Mobiltelefonen. „Ich will keine Strahlen hier!“ Alle sollen jetzt wenigstens den Flugmodus einstellen. „Sonst fange ich nicht an!“ Man sieht ihr an, dass sie am liebsten jeden Besucher im Essener Grillo-Theater persönlich kontrollieren würde. Die Leinwand erwacht mit einer rasanten Folge von Videofetzen über das „ganze Corona“ als „Fake“, über die Diktatur, „schlimmer als die DDR“. Was Elfriede Jelinek meint mit „Lärm“, das sieht der Zuschauer von Anfang an. Eine Flut an Äußerungen, ein pausenloses Gerede, eine ununterbrochene Aufregung.

Die Texte der österreichischen Literaturnobelpreisträgerin entstehen im gleichen Kontext wie das Dauerraunen und Non-Stop-Geschimpfe der sozialen Netzwerke. Jelinek macht aus diesem trüben Material poetische Texte und ist dabei ganz nah am Tagesgeschehen. Was ihr Schaffen attraktiv macht für das Regietheater. „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen.“ ist so ein Text, eigentlich eine mehr als 80 Seiten lange Tirade, eine Suada, eine Montage aus dem Bodensatz des Querdenkens. Das Thema? Das Jetzt, die vertrackte Lage, Corona und der Weg in die Pandemie. Proteste, Widerstand, Verschwörungserzählungen um Bill Gates und George Soros. Es gibt keine Personenliste, keine Regieanweisungen, keine ausgearbeiteten Dialoge, nicht einmal eine richtige Handlung.

Freies Feld für Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer, der am Grillo den Zugang vom Volkstheater her wählt, von Slapstick und dem Spiel über die Rampe. Was schon mal dem Angang der Autorin schön folgt. Sie überblendet das Ballermann-Treiben des frühen Super-Infektions-Brandherds im österreichischen Skiort Ischgl mit einer Episode aus der Odyssee. Die griechischen Irrfahrer stranden auf der Insel der Zauberin Kirke, die die Begleiter des Odysseus in Schweine verwandelt. Der Held immunisiert sich gegen die Magie, bandelt mit Kirke an und befreit am Ende seine Begleiter. Die Enthemmung im modernen Massentourismus lässt sich schlüssig als Verschweinung deuten. Man muss nur die Szene anschauen, in der Kirke eine Klappe im Tresen öffnet und die Darsteller ihr Köpfe in Kübel mit Spaghetti stecken. Längst sitzen sie da nicht mehr, sondern kriechen über den Kneipenboden. Und am Ende tragen einige wirklich Schweinsköpfe und werden mit Frischhaltefolie für die nächste Grillparty präpariert.

Auf Skiern klappern anfangs die Akteure hinein ins Lokal mit dem Hirschkopf über dem Tresen und den stilisierten Stachelkreisviren auf der Tapete (Bühnenbild: Thilo Reuther, Kostüme: Michael Sieberock-Serafimowitsch). Selbst wenn sie sich an den Tisch setzen und in breitem rheinischem Dialekt über die Speisekarte palavern, bleiben die Brettl an den Füßen. So unbeholfen sie die Schritte setzen, so unbelastet von jeglichen Zweifeln und Hemmungen leben sie ihre Momentimpulse und Triebe aus. Vor allem aber textet immer jemand. Den Lärm aus dem WWW übersetzt die Inszenierung in einen Redeschwall, dem bestimmt kein Zuschauer über die ganze Strecke folgen kann und der vor allem jedes Nachdenken erstickt. Die Überforderung ist Stilmittel. „Sie brauchen jetzt auch eine Pause“, hat Ines Krug, die so verführerisch reif verruchte Kirke, ein Einsehen.

Was für ein wilder Ritt. Da setzt Stefan Diekmann den schweren Schlagbohrer an, um Alexey Ekimov den Bill-Gates-Chip aus dem Kopf zu holen, und der spricht plötzlich nur noch Russisch. Bis zu dem Augenblick, wo ihm das Ding wieder eingesetzt wird. So taumeln sie durch das Geschehen, und auch der Odysseus des Jan Pröhl wirkt nicht, als hätte er die Spur eines Durchblicks. Eine tumber, großäugiger Hüne mit Lockenbart, mehr ein Vortrinker als ein Vordenker. Von wegen listenreich!

Die sechs Darsteller leisten Staunenswertes. Die meiste Zeit stecken sie in warmen Ski-Anzügen, auf Skiern, in den klobigen Stiefeln, die jeden von ihnen in einen schwerfüßigen Frankenstein-Schritt zwingen. So betreten sie sogar Stufen, die schmale Treppe der Après-Ski-Bar-Ausstattung. Sie müssen eine Dauerdümmlichkeit verkörpern, eine mentale Grundhaltung, die die Ignoranz der Querdenker mit dem Hedonismus einer Ballermann-Bevölkerung kombiniert. Da zwingt man das Gehirn dazu, dauerhaft untertourig zu fahren. Und dann stemmen sie auch noch diese Textmengen. Versprecher, Aussetzer sind eingepreist. Immer wieder mal blafft einer zum Souffleur nach Text. So erkennt man nicht, ob der wirklich hängt oder das auch nur spielt.

Das Treiben bedeutet auch für das Publikum Anstrengung. Denn da ist ja nicht wirklich Entwicklung, kein Fortschritt. Auch wenn sie „die Wahrheit“ finden, die auf Knopfdruck verkündet wird. Auch wieder hohles Gerede. Und wenn sich am Ende die Bar in ein Floß verwandelt, auf dem sie zum Horizont entschwinden.

Der zweieinhalbstündige Abend fühlt sich länger an. Auf einige Textblöcke dürfte man ruhig verzichten, und auch Diekmanns Ausbruch gegen die Ignoranz, auf den er gleich die Forderung nach Redeverbot für die Bürger setzt, die nicht besorgt, sondern bescheuert sind, braucht diese Ausführlichkeit nicht. Aber die Wucht der Performance reißt das Publikum mit. Und sie haben ja auch recht. Großer Beifall.

29., 30.10.; 16., 24.11.;

Tel. 0201/ 8122 200, www.schauspiel-essen.de

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