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„Die Marquise von O...“ von Heinrich von Kleist am Theater Münster

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Von: Achim Lettmann

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Vom Leben irritiert ist die Marquise (Carlotta Freyer) in der Münsteraner Inszenierung.
Vom Leben irritiert ist die Marquise (Carlotta Freyer) in der Münsteraner Inszenierung. © Bettina Stoess

Heinrich von Kleists selten gespielte Novelle „Die Marquise von O...“ wird am Theater Münster aus der Perspektive einer emanzipierten Frau auf sein Wertesystem hin abgeklopft. Zu erleben ist die Selbstbehauptung einer Theaterfigur.

Münster – Geigenspiel erfüllt das kleine Haus des Theaters Münster. Nadine Quittner stöckelt auf High Heels, trägt Skinny-Pink und eine aufreizende Abendgarderobe. Sie macht Musik wie David Schwarz am E-Piano. Eine Theke am Ende und eine runde ausladende Sitzbank mit Kugelleuchten im Vordergrund spannen den Bühnenraum weit auf. Jelena Nagorni (Kostüme/Bühne) lädt in ein Etablissement, das im Halbdunkel ein bisschen verrucht erscheint. Wo ist eigentlich die Marquise von O...? Dieses Stück von Heinrich von Kleist steht auf dem Spielplan, und Carlotta Freyer liest die Annonce, womit die Marquise nach dem Unbekannten sucht, der sie geschwängert hat. Dass die Adelige so kühn in die Öffentlichkeit geht, ist ein erzählerischer Kniff in Heinrich von Kleists Novelle (von 1808). Welche Frau bekennt sich in einer Zeit, in der ihr ein gesellschaftliches Stigma droht, zu einem unehelichen Kind, ohne den Vater zu nennen? Von Kleist entwickelt daraus ein Tugenddrama, bei dem die Marquise erkennen muss, wie hilflos sie ist, wenn selbst die Mutter ihr nicht glaubt und der Vater sie rauswirft.

Am Anfang der Kleist-Geschichte wird die Marquise von russischen Soldaten bedrängt, die den Palast ihres Vaters in Oberitalien stürmen. Ein Offizier tritt hinzu, rettet sie, bietet ihr einen Schutzraum („Engel des Himmels“), auf das sie sich sicher fühlt und ohnmächtig in den Schlaf sinkt. Tagsdrauf zieht der russische Graf F. mit den Truppen weiter. Alsbald spürt die Frau und Witwe, die bereits Mutter von zwei Kindern ist, eine Übelkeit, die sie an ihre Schwangerschaften erinnert.

In Münster kotzt und schreit sich Carlotta Freyer ins Gefühlschaos. Sie spielt eine ganz junge Marquise, die einfach von den Vorgängen überwältigt wird. Zu ihrer Erfahrung, unerklärlich schwanger zu sein, tritt die Initiative von Regisseurin Lily Sykes, den Autor zu prüfen, was er seiner weiblichen Heldin zugemutet hat, ist sie doch im Schlaf vergewaltigt worden. Dazu haben Lily Sykes und Victoria Weich eine Bühnenfassung geschrieben, die auf die Briefe zwischen Heinrich von Kleist und Wilhelmine von Zenge zurückgeht. Fragen zur Erlebniswelt von Mann und Frau werden allerdings zu keiner Me-Too-Debatte verdichtet. Vielmehr muss die Marquise von O... in Münster die Stationen eines Selbstfindungstrips durchleiden, bei dem sie am Ende eben selbst entscheidet, wie das Ende aussieht und, bitte schön, nicht Heinrich von Kleist.

Im schlüpfrigen Etablissement werden vor allem grelle Figuren präsentiert. Der Obrist, Vater der Marquise, bewegt sich wie im Wahn. Mal tappelt er herum, begegnet der Tochter in einem Fischkörpermodell, dann rutscht er mit einem Stoffgeflecht über die Bühne oder zieht die Pistole. Oscar Olivo ist der Tausendsassa des Abends. Als Arzt, der die schwangere Marquise untersucht, erregt er sich wie ein Lustmolch an der Aufgabe. Der Türsteher, der den Grafen F. bei seiner Rückkehr einlässt, wird zur Karikatur. Es sind Schaunummern, die der Inszenierung etwas Unvorhersehbares geben und von Kleists Vorlage ablenken. Die Obristin wird von Agnes Lampkin eilfertig, standesbewusst und korrumpiert gezeigt. Dass sie ihrer Tochter misstraut, tut ihr später so theatralisch leid, dass die Marquise selbst nicht weiß, woran sie bei ihrer Mutter ist.

Nadine Quittner als Vertraute (und Kammerfrau) unterstützt die Marquise. Es sind beste Freundinnen, die sich erleben wollen, wie einst in der US-Serie „Sex and the City“. Nur Mister Big ist eine Enttäuschung. David Schwarz darf dem Grafen F. keine Kontur geben, er steht herum, presst Orangen aus, wirkt deplaziert. Sein Sprechgesang am E-Piano ist nicht mal schlagertauglich. Eine Null. Dass sich Graf F. zur Marquise bekennt, sie als Erbin einsetzt, um sich Mutter und Kind ohne Forderung zu nähern, wird in einer Inszenierung erwähnt, die auch Spielszenen mit Erzählstellen aus der Novelle in Konkurrenz setzt. Heinrich von Kleists Wertesystem wird abgeklopft.

Die Absicht des Autors, die frühe Ohnmacht der Marquise als ersten Liebesbeweis gegenüber dem Grafen F. aufzuschlüsseln, geht in Münster als Anachronismus aus dem Zeitalter der Romantik unter. Die Vergewaltigung wird in der Novelle eben nicht als Verbrechen behandelt.

In Lily Sykes’ Regietheater findet die Heldin in ihrem eigenen Gefühl eine Existenz, das sie gegen Mann, Eltern und Gesellschaft verteidigt. Allein. Das ist ihr Ende.

6., 21., 29.4.; 17., 28.5.; 2., 14.6.; Tel. 0251/59 09 100; www.theater-

muenster.com

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