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Das Ruhrmuseum zeigt die Ausstellung „Die Emscher – Bildgeschichten eines Flusses“

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Von: Ralf Stiftel

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Aufnahme „Emscherbrunnen im Bau“ (um 1907) zeigt Arbeiter in der Kläranlage Bochum.
Ausbalanciert: Die Aufnahme „Emscherbrunnen im Bau“ (um 1907) zeigt Arbeiter in der Kläranlage Bochum. © Ruhr-Museum/ Fotoarchiv Emschergenossenschaft

Essen – Schnurgerade läuft die Emscher in die Ferne. Ihre steilen Ufer sind grasbewachsen, große Strommasten säumen ihre rechte Seite. Der Wasserspiegel ist nur von einigen Wirbeln gebrochen, die Masten reflektieren darin zu einem gleichförmigen Rhythmus. Man sieht in der Ferne eine Eisenbrücke, einen Kran, eine Kirche.

„Schönheitsaufnahmen“ nannte man bei der Emschergenossenschaft solche Bilder. Das bedeutete, dass man sie für Werbezwecke einsetzen wollte, für Image-Anzeigen zum Beispiel. Dieses um 1955 entstandene Foto zeigt nicht, was damals jeder riechen konnte. Die Emscher war die „Köttelbecke“, ein Kanal für Industrieabwässer und Fäkalien des Ballungsraums Ruhrgebiet. Die technisch perfekte Aufnahme mit ihren klaren Fluchtlinien zeichnete ein allzu idyllisches Bild. Zu sehen ist es im Essener Ruhrmuseum, in der Ausstellung „Die Emscher – Bildgeschichte eines Flusses“.

Kurz nachdem die Emschergenossenschaft der Öffentlichkeit mitteilen konnte, dass der Fluss nach langjähriger Renaturierung abwasserfrei ist, zeigt das Museum eine visuelle Chronik der Gewässergeschichte von der vorindustriellen Zeit bis in die Gegenwart. Museumsdirektor Heinrich Theodor Grütter sieht dabei drei Zeitstufen, in denen es jeweils einen komplett unterschiedlichen Fluss gab. In der vorindustriellen Epoche war die Emscher der mittlere von drei Strömen, die das Ruhrgebiet von Ost nach West zum Rhein durchflossen: Lippe, Emscher und Ruhr. Die Emscher mäanderte gemächlich durch eine agrarisch geprägte, dünn besiedelte Landschaft. An ihren Ufern errichteten Adelige ihre Bauten. Sie war ursprünglich der schlösserreichste Strom Deutschlands, sagt Grütter. Die Wassermühlen, die ursprünglich die Wasserenergie für die Getreideverarbeitung nutzten, markierten bereits einen Anfang der Industrialisierung. Als allerdings im 19. Jahrhundert der erste Strukturwandel kam und mit Bergbau und Stahlproduktion aus der Region ein Ballungsraum wurde, ergaben sich Großstadtprobleme. Die rasch gewachsenen Städte ertranken in Abwässern. Eine klassische Kanalisation konnte nicht gebaut werden, weil der Bergbau den Boden in Bewegung hielt. Rohre wären in kurzer Zeit durch Bergsenkungen zerbrochen worden. Also, wie Grütter etwas pathetisch formuliert, musste die Emscher sterben, damit die Region überleben konnte. 1899 wurde die Emschergenossenschaft gegründet, und sie baute um, begradigte, lenkte Zuleitungen, sorgte später für die Auskleidung des Flussbetts und Gefälle, errichtete Pumpstationen und Kläranlagen. Eine Güterabwägung. Noch 1904 gab es nach einer Typhusepidemie in Gelsenkirchen 700 Tote, sagt Grütter. Mit dem erwachenden Umweltbewusstsein der auslaufenden 1970er Jahre kamen auch erste Pläne zu einer Renaturierung. Aber die heutige Emscher ist keine Wiederherstellung, betont Grütter. Das Milliardenprojekt war der komplette Neubau eines Flusses, den es vorher so nicht gab.

Die Ausstellung hat drei sehr unterschiedliche Teile. Der inhaltliche Kern besteht aus einer Auswahl von Fotos der Emschergenossenschaft, die ihre Aktivitäten von Anfang an von einer Fotoabteilung begleiten ließ. Bis in die 1960er Jahre hinein wurden Glasplatten verwendet, was eine hohe technische Qualität ermöglicht, zum Beispiel große Tiefenschärfe. Aus mehr als 40 000 Glasplatten wurden rund 200 ausgewählt und bieten nun erstmals in einer Ausstellung einen Eindruck. Die Aufnahmen entstanden nicht unter ästhetischen Gesichtspunkten (bis auf die „Schönheitsaufnahmen“), es waren technische Bilder für präzise bestimmte Zwecke. So sieht man immer wieder Beschriftungen, im Fluss geben Pfeile die Fließrichtung des Wassers an. Oft dokumentierten die Fotografen Vorher-Nachher-Situationen, zum Beispiel von der Kanalisierung in Dortmund: Erst, 1922, sind zwei Äcker durch den Oespeler Bach getrennt. Anderthalb Jahre später sieht man nur noch Acker. Viele Bilder sind vor allem von dokumentarischem Interesse. Man blickt auf das alte Ruhrgebiet, mit vorindustrieller, zuweilen ländlicher Anmutung wie bei der Aufnahme einer Trinkhalle in Dortmund von 1926 oder dem Durchlass des Kirchschemmsbachs in Bottrop 1922 mit neugierigen Kindern.

Die Fotografen arbeiteten systematisch, und ihre Bilder von Bachläufen mit Absturzbauwerken zum Schutz vor Überflutung, von Brücken, Pumpwerken, Kläranlagen haben zuweilen die Anmutung von Bildserien der Bechers. Manche Aufnahmen sind auch einfach schön, zum Beispiel das Duisburger Pumpwerk Alte Emscher, das Alfred Fischer geplant hat. In Nacht und Nebel wirkt selbst die Flusskläranlage in Bottrop romantisch. Die überwiegend unbekannten Fotografen hatten keinen Porträt-Auftrag, aber auf den Bildern tauchen durchaus Menschen auf, zum Beispiel sehr oft neugierige Kinder auf den vielen Aufnahmen von Überschwemmungen vor der Regulierung. Auf einem Baustellenfoto von 1927, das zwischen Aplerbeck und Sölde entstand, posieren die Arbeiter selbstbewusst vor der Kamera. Ein Bild von 1907 aus Bochum (Emscherbrunnen im Bau) zeigt Arbeiter, die auf einem Balken balancieren, ein Gegenstück zu den berühmten Wolkenkratzer-Baustellen-Ansichten aus New York. Das sieht in Essen großartig aus, auch weil einige der aus mehreren Platten zusammengestückelten Panoramen auf Plakatformat vergrößert wurden.

Das Davor wirkt bescheidener: Man hatte von der frühen Emscher kaum Fotos. Gemälde wie eine Bacchusszene mit Schloss Strünkede im Hintergrund (um 1760) und viele Karten bieten da Ersatz. Die letzten Jahrzehnte er Rückbau-Phase sind viel dichter dokumentiert, das Material ist nicht so einheitlich. Aber auch hier gibt es spannende Bilder, zum Beispiel die Panorama-Ansichten von Henning Maier-Jantzen, der für seine Aufnahmen von Wohngebieten auf eine Hebebühne stieg, um den nötigen Überblick zu gewinnen. Hier erfährt man von der Aussetzung von Groppen – der Fisch war in der Emscher ausgestorben. Oder sieht Kinder barfuß im Bach planschen. Zu „Köttelbecke“-Zeiten wäre das nur eklig gewesen. Auf dem Foto von 2007 hat man ein Fleckchen heile Welt mit klarem Wasser.

Bis 16.4.2023, tägl. 10 - 18 Uhr, Tel. 0201 / 24681 444, www.ruhrmuseum.de

Katalog, Klartext Verlag,

Essen, 29,95 Euro

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