Die Kunstliebhaber finden die wichtigen Motive vereint: Das berühmte Mädchen mit dem Perlenohrgehänge, dem 2003 sogar ein Film mit Scarlett Johansson gewidmet wurde, die Ansicht von Delft, die Kleine Straße, die Briefleserinnen, die Musikantinnen mit Laute und Virginal. Da fehlt eigentlich nur die große Allegorie der Malkunst, die das Kunsthistorische Museum in Wien schon 1995 nicht auslieh. Sonst hat man den ganzen Mann von den Anfängen mit Historien in der Tradition der Caravaggisten aus Utrecht wie in der biblischen Szene „Christus im Haus von Maria und Martha“ (ca. 1654–1655) bis zum reifen Werk.
Aber sonst ist das Rijksmuseum ein Ort der Versenkung in die stille Welt des Barockmeisters, dessen Werk so ganz andere Töne anschlägt als das seiner Zeitgenossen. Es klingt paradox, angesichts des erwarteten Ansturms. Aber das Kuratorenteam hat alles getan, um auch bei Andrang freien Zugang zu ermöglichen. Die 28 Bilder haben in zehn Sälen Raum zur Entfaltung. Kleine Geländer markieren den Sicherheitsabstand, denn Vermeers Bilder verlocken dazu, sich ihnen zu nähern. Die sieben Gemälde aus niederländischen Sammlungen wurden vorab restauriert und mit den neuesten Techniken untersucht, was eine Fülle neuer Erkenntnisse brachte, zum Beispiel bislang unbekannte Untermalungen oder Daten zu den verwendeten Pigmenten.
Das Milchmädchen hat einen ganzen Saal für sich. Man kann sich hier die Zeit nehmen, Vermeers besondere Meisterschaft zu studieren. Es beginnt mit der Führung des Lichts, das durch das Fenster links fällt und an dem eine Scheibe zerbrochen ist. An der weißen Wand hat er ursprünglich ein Regal mit aufgehängten Krügen vorgesehen, es aber später übermalt. So unterstreicht er die monumentale Wirkung der Figur, weil nichts von der Magd ablenkt. Das Licht ist allgegenwärtig in diesem Gemälde, anders als zum Beispiel bei den Caravaggisten arbeitet Vermeer nicht mit einer einzelnen Lichtquelle. Er kannte die Helligkeitswerte in Innenräumen genau. So gelang es ihm, das Weiß der Haube gegen die Wand abzusetzen, den Effekt des von dort reflektierten Lichts wiederzugeben. Die Perspektive ist genau so konstruiert, dass der Betrachter sich leicht unterhalb der Magd befindet. Vor allem sind die vermeintlich so schlichten Bilder voller Details, die sich zu entdecken lohnen. Man spürt den Zauber der Wirklichkeit zum Beispiel in den Details wie dem eingeschlagenen Nagel, den kleinen Schäden im Putz der Wand. Man findet vielleicht auch die Stelle, an der Vermeer geschummelt hat, um das Bild plastischer wirken zu lassen: Zwischen dem Krug und dem Unterarm ist die verschattete Wand zu hell.
Es gibt eine Reihe solcher feiner Mittel, die die Forscher bei Vermeer fanden. Er kannte das optische Gesetz, dass Schatten farbigen Lichts den Komplementärton haben. Im Bild der „Briefleserin in Blau“ (ca. 1662-64) werfen der Stuhl und der Knauf des Stabs an der Landkarte bläuliche Schatten, weil gelbliches Tageslicht auf sie fällt. Ein anderer Trick: Beim blauen Gewand ließ der Künstler an der Konturlinie einen schmalen Streifen der hellen Untermalung stehen, wodurch die Figur ein kaum sicht-, aber deutlich bemerkbares Halo umgibt, das sie besonders plastisch wirken lässt.
Die Kuratoren um Gregor J.M. Weber haben bei der Hängung einen Kompromiss zwischen Chronologie und Motiven gewählt. Den Auftakt machen die beiden Werke, in denen sich Vermeer der Außenwelt widmet: die Ansicht von Delft und die Kleine Straße. Der britische Kunsthistoriker Kenneth Clark meinte, die Ansicht (ca. 1660-61) sei einer Farbfotografie so nah gekommen, wie es einem Gemälde möglich ist. Immer wieder verblüfft der Effekt, dass der Vordergrund verschattet ist und das dahinterliegende Stadtzentrum von der Morgensonne bestrahlt wird, was dem Bild Tiefe verleiht. Daneben hängt die Ansicht von Häusern in Delft, genannt die „Kleine Straße“ (ca 1658-59), die eben kein markantes Gebäude, keine Kirche, kein Schloss oder Rathaus zeigt, sondern ein schon etwas verwittertes Wohngebäude aus Backsteinen mit verwittertem weißem Anstrich. Das Unspektakuläre wird hier respektiert.
Vermeer war Sohn eines Kunsthändlers, Wirts und Malers. Man weiß wenig über ihn, der ebenfalls mehrere Berufe ausübte, um seine Familie mit wohl 15 Kindern über die Runden zu bringen. Er hatte 1653 Catharina Bolnes geheiratet, Tochter der reichen Katholikin Maria Thins. Er lebte im Papenhoek, dem „Papistenviertel“ der protestantischen Stadt, direkt neben einer von Jesuiten betriebenen Schule. Die Katalogautoren stellen die These auf, dass Vermeer hiermit der Camera obscura bekannt wurde. Das optische Gerät, das Vermeer mit großer Wahrscheinlichkeit für seine Malerei benutzte, war schon früh in katholischen Gottesdiensten thematisiert worden. Eine spannende, allerdings auch spekulative Annahme. Der Maler war zu Lebzeiten geschätzt und gut vernetzt in seiner Heimatstadt, so war er mehrmals Vorsitzender der Lukasgilde, in der die Maler organisiert waren. Allerdings arbeitete er langsam, malte nur zwei Bilder pro Jahr. Er hatte weitere Jobs, arbeitete als Kunsthändler und im Wirtshaus seiner Eltern am Marktplatz. Der Krieg gegen Frankreich 1672 stürzte die Niederlande in eine Wirtschaftskrise. Es wurde für Vermeer immer schwerer, den Unterhalt seiner großen Familie zu sichern. Er hinterließ nach seinem frühen Tod Schulden, die mit dem Verkauf seiner Bilder beglichen wurden.
Die meisten seiner Gemälde zeigen Szenen aus bürgerlichen Häusern. Er verwendet dabei Bildelemente, die der Konvention entsprechen. Der Brief, den die junge Frau am offenen Fenster liest, ist ein Liebesbrief. Das verdeutlicht Vermeer auf dem Bild (ca. 1657-58), indem er an der Wand ein Gemälde des Liebesgottes Amor darstellt. Die Musik war eine verbreitete Chiffre für den körperlichen Zusammenklang. Dass bei der stehenden Frau am Virginal ebenfalls ein Amor an der Wand hängt, bei der sitzenden Frau am Virginal (beide ca. 1670-72) gar eine Bordellszene, betont den erotischen Charakter der Bilder. Allerdings hält Vermeer seine Darstellungen stets in der Schwebe, Eindeutigkeit ist bei ihm nicht zu haben. So kann gerade dem letzten Bild auch eine tugendhafte Deutung innewohnen: Der sündhaften körperlichen Begegnung ist die spirituelle vorzuziehen.
Männer tauchen selten auf in seinen Bildern. Der Macho, der in „Das Glas Wein“ den Arm in die Hüfte stemmt und der Frau eingeschenkt hat, mag ein Verehrer sein. Aber das gediegene Ambiente nimmt der frivolen Situation ihre Brisanz.
Bis 4.6., so – mi 9 – 18, do – so 9 – 22 Uhr, Besucher müssen vorab online einen
Timeslot reservieren, www.rijksmuseum.nl
Katalog (engl./nl.) 35 Euro, deutsche Ausgabe in Vorbereitung im Belser Verlag, Stuttgart, 59 Euro