Ausstellung über die Gotik im Diözesanmuseum Paderborn

PADERBORN - Es gibt Schätze, vor denen kann man nur staunen. Zum Beispiel darüber, wie lässig und heiter ein Künstler ein Geschehen wie den Besuch am Heiligen Grab darstellen kann. Der meisterliche Goldschmied aus Paris zeigt in seiner um 1255 geschaffenen Arbeit drei Marien, die geradezu um den geöffneten Sarg tänzeln. Und der Engel, der das Wunder des leeren Grabes erläutert, der hat sich leger auf die Kante gesetzt, das eine Bein aufgelegt, und vom Faltenfall des Gewandes bis zu den bloßen Füßen stimmt jede Kleinigkeit.
Damit endet der Zauber des Reliquiars aus der Kathedrale von Pamplona noch nicht. Man darf die beiden eingeschlafenen Wächter bestaunen, die als Ritter in Rüstung erscheinen, etwas kleiner als die Hauptfiguren, aber in völlig natürlicher Haltung. Über dieser coolen Anekdote hat der Künstler noch ein Haus errichtet, eine gotische Kapelle mit feinsten Krabben, Knospen, Stäben, Dreipassen und einem himmelstürmenden Turm, auf dem ein weiterer, winziger Engel steht.
Das Meisterwerk ist im Diözesanmuseum Paderborn zu sehen, in der Ausstellung „Gotik“. Die Schau feiert mit rund 160 kostbaren Exponaten das Jubiläum des Paderborner Doms und richtet dabei den Blick auf das Jahrhundert der Kathedralen. Streng genommen täuschen Museumsdirektor Christoph Stiegemann und die Kuratorin Petra Koch-Lütke Westhues damit das Publikum. Das Jubiläum bezieht sich auf den vom Bischof Imad initiierten romanischen Vorgängerbau, der vor genau 950 Jahren geweiht wurde. Aber Anfang des 13. Jahrhunderts waren auch die Ideen einer neuen Kunst aus Frankreich nach Westfalen gedrungen, und 1215 wurde ein Neubau begonnen. Die Grundrisse wahrten die Baumeister allerdings, und sie übernahmen auch nicht konsequent die alles vom neuen Stil. Und so gibt es eben in Paderborn einen gotischen Dom mit spätromanischem, wuchtigem Turm. Und wo in wirklich gotischen Kirchen die Mauern geradezu verschwinden und nur noch Fenster und kunstvoll ausgetüftelte Säulen und Gewölbe bleiben, steht das Paderborner Gotteshaus wuchtig und massiv da. Freilich mit riesigen Fenstern, die den Innenraum viel heller erscheinen lassen als in einem romanischen Bau. Der Dom steht direkt nebenan, als zusätzliches und wichtigstes Ausstellungsstück, von dem man freilich nicht weiß, wann genau es fertig war.
Aber die Gotik ist als Stil einer Um- und Aufbruchsepoche allemal ein großes Thema, dem sich die Schau mit vielen erstklassigen Stücken nähert. Die stammen aus bedeutenden Häusern, der Vatikan ist wieder unter den Leihgebern, der Louvre und das Musée de Cluny in Paris, das Rijksmuseum Amsterdam, aber auch Kirchengemeinden in Fröndenberg, Geseke und Lippstadt. In sechs Kapiteln entfaltet die Schau ihr Thema, immer am Paderborner Dom entlang, ohne die globalen Aspekte aus dem Blick zu lassen. Denn die Gotik war eine Erfindung aus Frankreich, hier wurden die Prinzipien entwickelt, die sich über ganz Europa ausbreiteten. Ein wichtiger Leihgeber war das Diözesanmuseum Mainz, dort saß der Erzbischof und über Mainz kamen die Entwicklungen der Gotik nach Westfalen, gleichsam in die Transperipherie, wie Stiegemann die Randlage nennt.
Die Gotik entdeckte den Menschen, wie man an den Skulpturen erkennt, die noch als Bruchstücke zu uns sprechen. Die lebensgroße Büste eines Engels aus dem Louvre lächelt uns verschmitzt an. Und obwohl Teile der Nase abgebrochen sind, spürt jeder Betrachter die tiefe emotionale Bewegung beim „Kopf mit der Binde“ aus der Werkstatt des Naumburger Meisters. Einst muss es ein Meisterwerk des Illusionismus gewesen sein, farbig gefasst und Teil einer lebensgroßen, fast unbekleideten Figur, die frei im Gewölbe hing. Geradezu schockierend für den unvorbereiteten Besucher.
Auch die Architektur der Epoche ist eine Überwältigungskunst. Die lichtdurchfluteten Räume sollten bei den Gläubigen starke Gefühle freisetzen. Damit das möglich wurde, brauchte es technischen Fortschritt. In der Schau sind einige der frühesten Architekturzeichnungen zu sehen. Bauwerke konnten nun skaliert werden, also in verschiedenen Maßstäben verwirklicht, wie Stiegemann erläutert. Jetzt konnte man Gebäude gleichsam in die Kirche bringen, indem beispielsweise Reliquiare aussahen wie Kapellen oder Kathedralen. Man kann das an prachtvollen Stücken bewundern wie einem feinen Tabernakel mit thronender Mutter mit Kind, einem Virtuosenstück der Miniaturisierung: Gerade zehn Zentimeter breit ist da ein Klappaltar mit vier Flügeln aus vergoldetem Silber nachgebildet, und im Zentrum sind Mutter und Kind aus Elfenbein geschnitzt, gerade 34 Millimeter hoch.
Alle Spielarten der Kunst sind in feinsten Stücken zu finden: Erlesene Buchmalerei, Elfenbeinschnitzereien, kostbare Textilien, besiegelte Pergamente, die über rechtliche und politische Fragen Auskunft geben, ein frühes Blatt zur mehrstimmigen Musik, flankiert von Hörbeispielen. Und auch die Fragmente vom Schrein der heiligen Gertrud von Nivelles, die die Bombardierung des belgischen Ortes im Zweiten Weltkrieg überdauerten, werden in einer aufwändigen Rekonstruktion präsentiert.
Den Schlusspunkt setzt das Dreiturmreliquiar aus der Aachener Domschatzkammer (2. Hälfte 14. Jh.), bei dem Christus, Johannes der Täufer und der heilige Stephanus jeweils in einem eigenen Baldachin dargestellt sind, und die aus Silber gearbeiteten feinen Streben und Pfeiler der gotischen Architektur sehen aus wie Spitzenklöppelei. Und so fügen sich lokaler Anlass und globaler Blick zu einem Kunsterlebnis von nachhaltiger Dauer.
Bis 13.1.2019, di – so 10 – 18 Uhr, Tel. 05251/ 1251 400, www. dioezesanmuseum-paderborn.de, Katalog, Michael Imhof Verlag, Petersberg, 39,95 Euro