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Anna Tenti inszeniert in Dortmund Yasmina Rezas „Der Gott des Gemetzels“

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Von: Ralf Stiftel

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Szene aus „Der Gott des Gemetzels“ am Schauspiel Dortmund mit Linus Ebner, Christopher Heisler, Lola Fuchs und Linda Elsner (von links)
Ein vernünftiges Gespräch unter zivilisierten Menschen: Szene aus „Der Gott des Gemetzels“ am Schauspiel Dortmund mit Linus Ebner, Christopher Heisler, Lola Fuchs und Linda Elsner (von links). © Birgit Hupfeld Rottstr.5 44793 B

Dortmund – Die Kunst des zivilisierten Umgangs spürt man vom ersten Satz an. Die beiden Ehepaare wetteifern in Höflichkeitsfloskeln: „Ist Ihnen das recht?“ und „Wir haben zu danken.“ Aber unter der Oberfläche blitzen die scharfen Wortmesser. Der Alltag der Houillés und der Reilles wurde durch einen Vorfall zwischen den Söhnen gestört. Ferdinand Reille hat Bruno Houillé mit einem Stock ins Gesicht geschlagen, zwei Zähne brachen dabei ab.

Unter vernünftigen Menschen sollte es möglich sein, den Konflikt aus der Welt zu schaffen. Zumal Geld für die Behandlung keine Rolle spielt, das hat man oder bekommt es von der Versicherung erstattet. Aber Véronique will für ihren verletzten Sohn doch etwas mehr: Reue, Buße, Strafe für den Täter. Während Alain den Wirbel nicht versteht. Elfjährige Jungs sind eben „Wilde“. Yasmina Rezas 2006 uraufgeführte Komödie „Der Gott des Gemetzels“ ist ein moderner Bühnenklassiker, ein Erfolgsgarant. Am Schauspiel Dortmund inszeniert Anna Tenti es aber als Lückenbüßer. Eigentlich sollte Bonn Parks Stückentwicklung „Das Haus im Wald“ Premiere haben. Aber weil der Regisseur erkrankte, musste binnen vier Wochen Ersatz gefunden werden. Elemente der Improvisation findet man noch im Abend. So wurde das Bühnenbild mit der Holzhütte von Jana Wassong beibehalten. Das stört nicht weiter. Aber man sollte jetzt auch nicht allzulange darüber nachdenken, was zum Beispiel der große Hexenofen über die Houillés aussagen soll. Er war eben da. Das ergibt gelegentlich surreale Effekte, wenn die Darsteller durch eine Klappe im Boden ins Bad gehen.

Eine famose Idee ist es, die in edle Freizeitklamotten gekleideten Paare mit Frisuren im Partnerlook auszustatten (Kostüme: Pina Starke), rot und blond signalisieren wie Fußballtrikots die Teamzugehörigkeit. Wobei die sich ja sehr schnell auflöst. Wie auch die Regeln des zivilisierten Umgangs bald pulverisiert werden von den erst unterdrückten, dann immer ungehemmter ausgelebten Aggressionen. Da lässt es Regisseurin Tenti ab und zu blitzen, flackern und krachen. Und unvermittelt greift Véronique die Tischdecke und schlägt ihre Zähne hinein wie in ein Beutetier. Oder Michel erwürgt ein Brötchen, das er gerade in der Hand hält. Sie ringen um Selbstbeherrschung. Und sie verlieren sie.

Das ist unfehlbar komisch, wenn Alain, der Anwalt, alle Nase lang das klobig altmodische Mobiltelefon aus der Tasche zieht und ausführlich an seinem aktuellen Fall arbeitet: Sein wichtigster Kunde, ein Pharmakonzern, hat offenbar ein Medikament mit fatalen Nebenwirkungen auf den Markt gebracht. Nun gilt es, die Verantwortlichkeit zu vertuschen. Da fallen die Benimmregeln einer gesitteten Sprache. Alain sagt ungehemmt „Scheiße“, obwohl ihn alle hören.

Zwischen Komplimenten für die schönen Blumen, Plauderei über den köstlichen Clafoutis (mit Äpfeln und Birnen), später immer mehr Gläsern des teuren Rums aus Guadeloupe eskalieren die vier. Dann streiten sie, ob nicht auch Michel im Prinzip ein Mörder ist, weil er den Hamster seiner Kinder auf der Straße ausgesetzt hat. Und trägt nicht Bruno eine Mitschuld, weil er Ferdinand als Petze beschimpfte und ihn nicht in seine Bande aufnehmen wollte? Da werden Fragen nach Toiletten-Spülsystemen zu scharfen Angriffen. Annette wird übel, man weiß nicht, ob vom Clafoutis oder von der Aufregung, und sie übergibt sich, genau auf den Kunstband der Londoner Kokoschka-Ausstellung, der längst vergriffen ist. Die Houillés versuchen hektisch, mit Föhn und Spülschwamm das seltene Buch vom Erbrochenen zu reinigen. Spätestens da reißt die Heiterkeit das Publikum mit.

Die Darsteller agieren mit großem Einsatz und großer Spielfreude. Lola Fuchs gibt die Véronique mit fein dosiertem Gift als Hubschraubermutter, die im Grunde Rache für das Leid ihres Kindes fordert. Sie vermittelt schön die unterschwellige Wut noch bei den ruhigsten Begrüßungssätzen. Ihr glaubt man jeden falschen Ton. Linus Ebner gibt neben ihr den eher phlegmatischen Pragmatiker, der aber ausrastet, wenn es um Nagetiere geht, und der herrlich albern beim Auftritt als Paolo-Conte-Imitator mit dem Haarbürsten-Mikrofon ausflippt – nicht ohne sich zwischendurch die Haare glatt zu streichen. Linda Elsner verliert als Annette höchst unterhaltsam die Fassung, trinkt vor jedem Übelkeitsanfall demonstrativ einen Schluck Haferschleim, den sie dann ausspeit. Später bedient sie sich großzügig am Rum aus dem übergroßen Milchpaket (warum? weil es da war), und lallt kunstvoll ihre Argumente. Christopher Heisler gibt dem Alain einen guten Schuss Stromberg-Skrupellosigkeit. Seine Redeschwälle am Telefon treffen überzeugend den Ton des Unternehmensvertreters, der auf alles pfeift für Profite.

So erweist sich die Notlösung als voller Erfolg. Das Publikum, das in der letzten Saison mit dem Schauspiel fremdelte, bekommt eine nachvollziehbare Geschichte, noch dazu eine witzige Komödie aus dem gutbürgerlichen Milieu. Die Premiere wurde von Herzen bejubelt und gefeiert.

2., 10., 16., 30.12., 15.1.

Tel. 0231/ 50 27 222

www.theaterdo.de

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