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„Anders als es scheint“ ist eine Ausstellung in der Kunsthalle Recklinghausen

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Von: Achim Lettmann

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Béatrice Balcou hat in ihrer „Vitrine (film 3) Placebo“ (2014) eine Arbeit von Bojan Sarcevic in Buchenholz und Papier nachgestellt, zu sehen in Recklinghausen.
Ein Interieur, das schlicht wie rätselhaft zugleich wirkt. Béatrice Balcou hat in ihrer „Vitrine (film 3) Placebo“ (2014) eine Arbeit von Bojan Sarcevic in Buchenholz und Papier nachgestellt, zu sehen in Recklinghausen. © Lettmann

Parallel zur modernen Kunst, die visuelle Strategien vereinfacht, sind Kunstwerke populär, die rätselhaft daherkommen. In Recklinghausen widmet sich die Schau „Anders als es scheint“ diesem Phänomen.

Recklinghausen – In der zweiten Etage der Kunsthalle Recklinghausen darf man Platz nehmen. Zu sehen ist ein sprickeliges Wesen als Hauptdarsteller in einem Video-Loop von 2017, elf Minuten lang: „Walking Stick“. Aus 13 Ästchen des Ficus benjamina besteht die Insekten-Attrappe, die an eine Stabheuschrecke erinnert. Ein Tier, das sich unsichtbar machen kann, wenn es verharrt und dann wie ein Zweig aussieht. Eine optische Täuschung. Mimikry, wie es in der Biologie heißt. Paul Spengemann nimmt seine digitale Konstruktion so ernst, dass sie einen schon wieder unterhält. „Walking Stick“ wandert durch die Wohnung des Künstlers. Die Dramaturgie des Videos lehnt sich an Tierfilme an. Eine Melodie auf dem Klavier signalisiert die Winterruhe einer Tierart. Alsbald schließen sich vitale Aktivitäten an. Der Frühling kehrt ein, und das Lebensspiel um Verstecke, Selbstbehauptung und Daseinsareale geht weiter. Die liebevoll inszenierten Sequenzen bringen einem das künstlich animierte Tier nahe und machen es mit seinem Lebensmuster sympathisch.

Das Video „Walking Stick“ gehört zur Ausstellung „Anders als es scheint“. Nico Anklam, Direktor der Recklinghäuser Kunsthalle, weiß, dass das Rätselhafte, das Uneindeutige in der Kunst interessant ist. Während die moderne Kunst bildliche Strategien vereinfacht, Materialien offenlegt und die aktuellen Medien immer selbstreflexiver werden, behaupten komplexe Werke in der Kunstproduktion ihre besondere Anziehungskraft parallel dazu. Beispielsweise hat Alicja Kwade (Berlin) den klassischen Skulpturenbegriff auf ein Massenprodukt und eine Design-Ikone angewandt. Den Barhocker der österreichischen Firma Thonet, der aus wenigen Teilen konstruiert und extrem belastbar ist, schlug die in Polen geborene Künstlerin aus einem Holzblock. Die Sitzfläche ist die Baumscheibe des Stamms, aus dem auch abwärts die Beine gefräst wurden. Es ist eine Hommage an das Vorbild und eine Reverenz der Künstlerin an die tradierten Mittel der Bildhauerei. Titel: „abarstoolisabarstoolisabarstool“ (2019). Also, „a barstool is a barstool“.

Solche Strategien beeinflussen das Bewusstsein, wie Kunst rezipiert wird. Das Stuhl-Objekt wird in seinem Erscheinungsbild erkannt, gleichwohl lässt sich etwas Ungewohntes, Unerwartetes spüren. Stabil wie ein Barhocker ist das Werk nicht.

Alicja Kwade ist mit ihrer Kunst auch im öffentlichen Raum erfolgreich. Sie erhält Aufträge aus Frankreich, Saudi-Arabien, Hongkong, den USA und Deutschland. Recklinghausen zeigt außerdem ihre mehrteilige Objektarbeit „Andere Bedingungen (Aggregatzustände)“ von 2011/2020. Aufgestellt an einer Wand sinken ein Kupferrohr, Stahlblech, Holzlatte, Ankleidespiegel und Glasscheibe dem Boden entgegen, haben ihre Stabilität verloren und sind in ihrer Form verbogen. Es ist eine surreale Objektreihe zum Schmunzeln, die an klassische Vorbilder der Kunstgeschichte erinnert.

Solche Anwandlungen des Dinghaften werden von Béatrice Balcou zu einer ganz eigenen Existenz geführt. Die Französin, 1976 geboren, baut mit Holz Werke anderer Künstler nach. Sie schafft eine Nachbildung, die sie Placebos nennt. „Vitrine (film 3) Placebo“ (2014) ist an eine mehrteilige Skulptur von Bojan Sarcevic angelehnt. Balcou kopiert nicht, sondern sie beschwört die „Geister“ von Werken, wie sie sagt. In dem offenen Vitrinenrahmen in Recklinghausen haben die vier kleinen Plastiken eine erhabene Wirkung. Für Nico Anklam sind es „ästhetische Settings“. Der Kunsthallendirektor hat Werke für die Ausstellung „Anders als es scheint“ ausgewählt, die nicht laut und expressiv sind, sondern sich zurückhalten und mit strukturierten Oberflächen arbeiten. Katja Aufleger lässt beispielsweise eine Schallplatte mit eigentümlichen Geräuschen erklingen. Statt Musik, was von einem Tonträger als erstes erwartet wird, verwandelt die Arbeit „Sum of Its Parts“ (2012) die Reliefstruktur der Erde in Töne. Auf der B-Seite ist die südliche Hemisphäre zu hören. Das Prozesshafte des Werks muss mitgedacht werden. Es gehört Vorstellungskraft dazu, will man Katja Aufleger folgen. Auch ihre Installation „Volumen“ (2011) bietet eine sichtbare Seite: fünf dicke Bücher auf fünf Lesepulten. Bewusst muss man sich machen, dass Katja Aufleger die Erdkugel vom Nord- zum Südpol in Neun-Kilometer-Schritten durchschnitten und den Umfang auf jeder Seite im Massstab von 1:115 Millionen verkleinert hat. Die 2830 Seiten versammeln alle kreisrunden Scheiben, benannt nach Längen- und Breitengrad, so dass die Bücher das dreidimensionale Bild von der Erde aufgenommen haben: Das Runde ist nun im Eckigen. Es ist ein Digitaldruck auf Papier, der außerdem belegt, dass Bücher über ganze Welten Auskunft geben können.

Die Ausstellung „Anders als es scheint“ hält noch einige solcher rätselhaften und berührenden Erfahrungen bereit. Kurator Nico Anklam ist seit 2021 Direktor der Museen der Stadt Recklinghausen. Der 41-Jährige, in Düsseldorf geboren, hat Kunstgeschichte, Kulturwissenschaft, Ästhetik und Kulturmanagement in London, Berlin und New York studiert. Neben Lehrtätigkeiten (Berlin, Tromsø, Tallinn) kuratierte der Kunsthistoriker Ausstellungen in Dänemark, den Niederlanden, Estland, Schweden und Norwegen. Anklam hat die Kunsthalle, die in einem Bunker aus dem 2. Weltkrieg residiert und als „Kunstbunker“ bespöttelt wird, geöffnet – soweit es die Architektur zuließ. Es gibt Fenster zur Bahnhofsseite, ein nächtliches Kunstprogramm mit Videos, Ausblicke in Hinterhöfe und Gärten. Anklam will Kunst zeigen, „die mich fasziniert“. Dazu gehört neue Kunst aus dem baltischen Raum und Skandinavien. Von der Recklinghäuser Sammlung mit 5000 Exponaten ist er begeistert. Zur Nachkriegskunst zählen die Gruppe Zero, kinetische Kunst und der „junge westen“. Außerdem gibt es die Kunst der Bergleute.

Bis 29.1.; di – so 11 – 18 Uhr; Tel. 02361/501 935; www.kunsthalle-

recklinghausen.de

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