Die Co-Kuratorin der Ausstellung, Katharina Bosse, hat auch ihre Kinder mitgenommen. Bis Leo und Maxi volljährig waren, zeigten sie sich in selbst gewählten Situationen mal mit Softdrink oder beim Sprunglauf auf der Straße. Ihre Mutter realisierte ein Langzeitprojekt (2014–2022). Die Fotografin, 1968 in Finnland geboren, ist Professorin für Fotografie an der Fachhochschule Bielefeld. Auf ihren Reisen steuerte sie Transiträume an, Orte ohne Aufenthaltsqualität. Dort traf sie Menschen, wie beispielsweise Kitten deVille. Die New-Burlesque-Performerin aus Los Angeles grenzte sich mit ihrer femininen Weiblichkeit von der erotischen Burlesque-Szene ab. DeVille posierte 2001 mit einem Koffer in der kalifornischen Einöde. Bosse platzierte die Performerin in High Heels vor Schienen und Wohnwagen. Einerseits wird eine Landschaft dokumentiert, andererseits schafft die weibliche Pose irritierende Momente in der inszenierten Bildwirklichkeit.
Die Ausstellung in Bielefeld mit ihren rund 200 Fotografien erzählt nebenbei, wie sich das Reisen veränderte. Annemarie Schwarzenbach (1908–1942) fuhr mit einem Auto durch die USA (1937/38) und Afghanistan (1939). Ein Land, in dem sie kaum Frauen gesehen habe, notierte die Alleinreisende. Ihre Schwarz-Weiß-Bilder spiegeln die Begegnung mit Menschen, die einem so fremd und faszinierend erscheinen wie die Kultur, die mit archaischen Bauwerken symbolhaft auf den Fotografien erscheint. Könnte eine Frau im heutigen Afghanistan so reisen?
Die Fotografin und Filmemacherin Ruth Orkin (1921–1985) machte daraus ein leichtes Thema. „When You Travel Alone“ hieß ein Artikel im US-Magazin Cosmopolitan 1952. Zu den Reise-Tipps waren neun ihrer Fotos zu sehen, die sie in Italien aufgenommen hatte. Orkin inszenierte die junge Touristin Jinx, wie sie in Florenz von Italienern beäugt wird („American Girl in Florence, Italy“ 1951), wie sie vor einer manieristischen, muskelbepackten Skulptur Giovanni da Bolognas steht, im Reisebus sitzt und aus einem MG-Sportwagen winkt. Das ist absichtvoll naiv, spielerisch erstaunt und wirkt nett amüsant. Ruth Orkin geht hier souverän mit Klischees um, die sie auch aus ihrem Berufsleben kennt. Immer ist sie schlechter bezahlt worden als ihre Kollegen. Unter den Magazin-Fotografen der ASMP-Gesellschaft, der Orkin angehörte, waren 1947 nur 30 von 300 Frauen.
Die Fotografinnen Gisela Wölbing (1914–2003) und Gertrud van Dyck (1913–1991) reisten nicht beruflich. Sie führten in Bielefeld und Detmold Studios, wo sie mit künstlichen Lichtquellen und Requisiten die gewünschten Bilder für ihre Kunden realisierten. In Paris, London oder Rom fanden sie ihre Motive zufällig („Auf Reisen hatten wir keinen Plan“). Zu ihren Schnappschüssen gehören auch die Frauen im Bild „London, 1960er Jahre“, die ein Ereignis fasziniert verfolgten. Wölbing van Dyck zeigen mit ihrer Street Photography das Bild einer offenen Stadt. In Marokko waren die Lebenspartnerinnen vom Schattenspiel animiert, das Balkongitter auf einer hellen Wand hinterließen. Ihre Aufnahmen aus den 70er Jahren sind noch vom Stil der Neuen Sachlichkeit aus den 1920/30er Jahren inspiriert. Das Historische Museum der Stadt Bielefeld betreut den Nachlass der Fotografinnen.
Die US-Amerikanerin Amy Stein (52) ist mit einer besonderen Absicht unterwegs. Ihre Serie „Gestrandet“ zeigt Menschen, die am Wegesrand ausharren, weil ihr Auto liegen geblieben ist. Amy Stein bot Hilfe an und erbat sich die Erlaubnis, zu fotografieren. Das Bild „Outside Reno, NV“ zeigt ein altes Auto mit geöffneter Motorhaube. Zwei Kinder drehen sich ab, weil sie nicht erkannt werden wollen. Ohnmacht, Scham und Distanz sind spürbar. Eine Panne im Autoland USA löst die Befürchtung aus – alte Karre, soziale Not. Amy Stein hat zehn Jahre an ihrer Serie gearbeitet.
„Für eine Reise in unbekanntes Terrain“, sagte Sibylle Fendt (48), habe sie Bilder gefunden. Sie folgte Lothar und Elke Gärtner auf ihrer letzten Wohnmobiltour. Auslöser für den Osteuropatrip war die Demenzdiagnose der Ehefrau. Beide waren ein Leben lang gereist. Nun vermittelt die Serie „Gärtners Reise“ (2008) eine besondere Intimität. Die Fotografin Emine Akbaba (35) fuhr nicht so weit, nur nach Hannover in den Schrebergarten ihrer türkischen Eltern. Die Serie „Ein Stück Heimat“ (2013–2015) ist eine Innensicht mit türkischer Flagge, Brotbacken, Sonnenblumen und Gebetsteppich. Der Garten wird für Bohnen, Auberginen und Tomaten genutzt. Deutsche Nachbarn setzen mehr Blumen. Auch Anja Conrad (51), in Chicago und New York aufgewachsen, reiste in ihre Umgebung. Die Kamera ist ihr ein Zauberstab, der Kurioses festhält, in Spiegelungen das Zufällige feiert und Prozessen folgt, die Conrad zum Gestalten anregen. Ihre Serie „Everything is always so perfect when you are in it“ (2012–2018) zeige nur „Meisterwerke“, sagte Anja Conrad. Zu sehen in Bielefeld.
Bis 13.8.; mi – fr 14 – 18 Uhr, sa/so 11 – 18 Uhr
Tel. 0521/800 66 00
Katalog 24,80 Euro www.kunstforum-
hermann-stenner.de