Das bittere Schicksal des Polizisten Markus Klischat

Hamm - Polizisten setzen ihre Gesundheit und ihr Leben für die Freiheit und Sicherheit des Bürgers ein. Wird allerdings ein Polizeibeamter Opfer von Gewalt, so steht er vielfach ganz alleine da. Vor dem Gesetz, dem Dienstherren und vor den Versicherern. So wie der Oberkommissar Markus Klischat...
Der Herbst ist fern an diesem Samstag im September. Das Thermometer zeigt kommode 20 Grad, die Menschen tragen T-Shirts und liegen faul in Parks und Gärten. Markus Klischat ist zum Spätdienst eingeteilt. Wie üblich ist er um kurz vor 13 Uhr zu Hause losgefahren, vorbei an der Kirschallee im Industriegebiet. Kaum ein Wagen ist ihm dort entgegengekommen. Auf der Wache an der Hohen Straße hat er die Uniform mit den beiden Schultersternen angelegt und sich die Dienstpistole umgeschnallt. Wie’s der Zufall will, ist er allein im Wachbereich. Seine beiden Kollegen sind zu einem Einsatz abbeordert. Nichts deutet darauf hin, dass er das Schichtende nicht mehr dort erleben wird. Der 4. September 2010 wird der letzte Arbeitstag im Leben des Polizisten werden.
DER ÜBERFALL
Um 14.30 Uhr betritt ein Mann das Präsidium. Groß, schlank und muskulös. Das Hauptportal steht immer offen. Er ist Kraftfahrer bei einer Spedition, stammt aus dem in Kasachstan gelegenen Städtchen Tschernorezk. Markus Klischat kennt ihn noch vom Vortag. Zweimal ist die Hünengestalt da auf der Wache aufgekreuzt und hat wirre Verschwörungstheorien kundgetan. Die Mafia kontrolliere seinen Arbeitgeber, seine Kolleginnen würden zur Prostitution gezwungen...
Klischat bedient den Türöffner zum Wachraum und lässt den 41-jährigen Wolgadeutschen herein. „Was gibt’s denn heute?“, fragt er und erwartet eine neue Sequenz der ausgemachten Hirngespinste. Doch es soll anders kommen. Er wolle seine Anzeige wieder zurückziehen, sagt sein Gegenüber mit schwerem, rollenden Akzent und nähert sich dem Tresen. Markus Klischat zieht eine Augenbraue hoch und ergreift das Telefon. Für den Besucher sind nun die Kollegen von der Kripo wieder zuständig; er sucht nach einem Sachbearbeiter in dem nahezu verwaisten Amtsgebäude.
Es folgen 40 Minuten, die ihm wie 40 Tage vorkommen werden und nach deren Ablauf das ganze Leben nicht mehr funktionieren wird. „Ich hatte ihm den Rücken zugewandt. Während ich noch wähle, merke ich, dass sich hinter mir etwas bewegt. In dem Moment ist er auch schon über den Tresen gesprungen. Und als ich mich umdrehe, blicke ich in den Lauf von einer Waffe.“
Klischats folgende Reaktion ist eine Mischung aus Angstreflex und genialem Streich: Er lässt den Hörer fallen. Der Plastikknochen baumelt neben seiner Schreibtischplatte, doch die Leitung zu den Kripoleuten steht. Im Ostflügel der Behörde können die Beamten alles mithören. „Ich brauche deine Pistole!“, fordert der Mann aus Kasachstan und zielt auf Klischats Kopf. Immer wieder. „Ich brauche deine Waffe.“
Der Oberkommissar, damals 48 und das Leichtgewicht in seiner Wachdienstgruppe, weiß nicht, ob die Kanone echt ist. „Das hätte auch eine Erbsenpistole sein können. Man kann das nicht erkennen“, wird er später sagen. In dem Moment hat er nur einen Gedanken: „Meine Waffe kriegst du nicht!“
Es kommt zum Handgemenge zwischen den zwei ungleichen Gegnern. Und der Wolgadeutsche schießt aus nächster Nähe. Klischats Trommelfell zerplatzt. Der Angreifer prügelt mit der Pistole auf den Kopf des Polizisten ein, drückt den Lauf auf dessen Schläfe. Überall ist Blut. Noch einmal drückt er ab. Sechs Patronenhülsen werden später von der Spurensicherung auf dem Fußboden gefunden. Es sind Patronen einer so genannten Gasalarmwaffe. „Darauf muss man erst einmal kommen: Der schießt nicht vorbei, sondern nur mit Gas.“
Am Boden liegend will Klischat seine Walther P 99 aus der Hülle an seiner Hüfte zerren. Seit ihrer Einführung 2005 ist das Fabrikat unter Polizisten umstritten, gilt immer noch als unzuverlässig und störanfällig. „Na klar, ich wollte den erschießen. Er lag auf mir drauf, hat mich gewürgt und auf mich eingeschlagen. Aber das Scheißding ist ja doppelt im Holster gesichert. Ich hab’ sie da nicht rausgekriegt. 100 000mal geübt, und in so einer Situation funktioniert es nicht...“
Irgendwann hat er die 9-Millimeter dann doch in seiner Hand. Aber das macht gar nichts besser. Klischat drückt die Pistole auf den Körper seines Gegners, doch ein Schuss will sich nicht lösen. Eine Ladehemmung? Gutachter werden später feststellen, dass es kein konstruktionsbedingter Fehler der Mechanik war: Direkt aufgesetzt, blockiert die Dienstwaffe der Polizei ganz automatisch – aus Sicherheitsgründen, und das ist so gewollt.
Der Mann aus Kasachstan behält die Oberhand. Als wäre sie ein Schraubenschlüssel, dreht er dem Beamten die P 99 aus der Hand und visiert den Nacken seines Opfers an. Die Kollegen von der Kripo sind da längst ins Erdgeschoss gehetzt und halten sich in den Hinterräumen des Wachbereichs verborgen. Aber sie können nicht einschreiten, die Lage ist zu unübersichtlich. Erschwerend kommt hinzu, dass Extremsituationen wie diese nicht zum Routinetraining eines Kriminalermittlers zählen. Klischat ist noch immer bei Bewusstsein. Das Adrenalin verdrängt die Todesangst. „In dem Moment, wo er die Waffe hatte, war’s für mich vorbei. Ich hab’ nur noch gedacht, dass mich die Ärzte am Ende schon wieder zusammenflicken werden.“
Aber die Rettung ist zumindest noch in weiter Ferne. Der Kraftfahrer hantiert und fuchtelt mit der Dienstpistole. Klischat muss sich mit den eigenen Handschellen an die oberste Schublade seines Schreibtisches ketten. „Der wollte ein Fernsehteam. Keinen Mann von der Zeitung oder vom Radio. Nein, ein Fernsehteam. Ich sollte telefonieren und für eine Liveübertragung sorgen“, schildert Klischat die Situation mit seinen Worten. Die ganze Welt sollte von dem angeblichen Mafia-Filz in der Firma des Bedrohers erfahren und davon, dass dieser nun selbst im Fokus der Camorra stände.

Markus Klischat telefoniert. Mit den Kollegen von der Leitstelle, die im Nebengebäude an der Grünstraße ihren Dienst versehen. Er schildert seine Lage, die Forderung des Geiselnehmers und dass dieser nun auch seine Waffe hat. Der Wolgadeutsche will das Telefon. Minutenlange Verhandlungen mit dem Hauptkommissar am anderen Leitungsende folgen. Der Beamte versucht ihm zu erklären, dass in einer Stadt wie Hamm kein Fernsehteam verfügbar ist. „Beim besten Willen nicht. Der nächste Sender ist in Dortmund.“ Außerdem schlägt er vor, den schwerverletzten Klischat gegen einen anderen Kollegen auszutauschen. Der Geiselnehmer lehnt das ab. „Ihr wollt mich dann nur abknallen“, sagt er und beharrt auf seinen Forderungen.
Das Gebäude entlang der Hohen Straße ist hermetisch abgeriegelt. Mit allen verfügbaren Kräften ist die Hammer Polizei im Einsatz. Ein Spezialeinsatzkommando (SEK) ist angefordert und befindet sich auf der A1 im Anmarsch. Die Ehefrau des Geiselnehmers trifft ein. Ihr Mann habe ihr gesagt, dass er lediglich Zigaretten hätte holen wollen und gleich wieder zu Hause wäre, erklärt sie den Beamten. Sie habe geahnt, dass etwas Schlimmes vor sich gehe, weil er nicht zurückgekehrt sei. Ihr Mann sei komplett verwirrt, schon am Vortag habe sie ihn zur Polizei begleitet und habe vermutet, dass er auch jetzt den Weg zur Wache wählen würde.
Die ebenfalls aus Kasachstan stammende Frau darf mit ihrem Partner sprechen. Ein Beamter stellt den Telefonkontakt her, und schon mit wenigen Worten gelingt es ihr, den 41-Jährigen zur Aufgabe zu bewegen. Der Geiselnehmer legt die Dienstwaffe vor sich auf den Boden und erwartet seine Festnahme. Doch nichts passiert. Minutenlang. Die Situation im Wachraum nimmt groteske Züge an.
„Warum kommen die nicht?“, fragt der Mann aus Kasachstan und stiert durchs Glas ins Treppenhaus. „Weiß ich doch nicht...“, stöhnt Klischat und windet sich in seinen Fesseln. Der Angreifer schielt auf dessen Waffe. „Das ist doch eine Falle. Die wollen mich erschießen...“
Er gerät immer mehr in Rage. Die Situation droht wieder zu eskalieren. Was weder er noch Klischat wissen können: Die Beamten, die versteckt vorm Hauptportal aufs Startsignal warten, haben ihre Funkgeräte irrtümlich auf eine andere Frequenz eingestellt als die Polizisten, die auf der Leiststelle das Kommando führen. „Zugriff! Los, Zugriff!“, rufen die in einem fort und doch vergeblich. So lange, bis die Panne endlich entdeckt und aufgehoben ist. Die Situation klärt sich im Guten. Um 15.15 Uhr öffnet sich das Hauptportal. Der Wolgadeutsche leistet keinen Widerstand. Er lässt sich fesseln und wird von Polizisten aus dem Wachraum abgeführt. Um Markus Klischat kümmern sich der Notarzt und die Sanitäter.
Viereinhalb Monate später wird auch das Landgericht Dortmund dokumentieren, dass er zu diesem Zeitpunkt schwer verwundet ist. Sieben Verletzungen von stumpfer Gewaltanwendung, weitere durch Abwehrverletzungen und zwei Schusstreffer am Kopf werden in den Akten Erwähnung finden. Klischat hat einen Anriss des Trommelfells, eine Gehirnerschütterung und multiple Hämatome im Kopf- und Gesichtsbereich sowie zwei Platzwunden am Hinterkopf und an der linken Augenbraue erlitten. Doch das sind nur die äußeren Blessuren, die allmählich wieder heilen. Schon nach einem Tag kann er das Krankenhaus wieder verlassen. Was das Ereignis tief in seiner Persönlichkeit auslöst, wird hingegen unvergänglich bleiben.