„Es wird blutige Schlachten geben“: Osteuropa-Experte im Interview
Klaus Gestwa leitet das Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen. Er analysiert den Krieg in der Ukraine.
Hamm/Tübingen – Friedensverhandlungen sind nicht in Sicht und Waffenlieferungen an die Ukraine bitter nötig. Das sagt Professor Dr. Klaus Gestwa (59), der an der Universität Tübingen das Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde leitet. Im Interview mit Frank Lahme analysiert der Osteuropa-Experte auch die Lage Putins im eigenen Land und die künftige Rolle Chinas.
Wie wird der Krieg in der Ukraine weitergehen? Läuft nicht alles auf einen endlosen Stellungskrieg hinaus?
Ein Ende der Kriegshandlungen ist nicht in Sicht. Der russische Zermürbungskrieg wird sich 2023 fortsetzen. Seit Monaten können wir beobachten, dass Russland einen neuen Großangriff auf die Ostukraine vorbereitet. Diese Offensive gewinnt aktuell erheblich an Dynamik. Gerade um Bachmut herum hat sich ja schon so etwas wie ein Stellungskrieg entwickelt. Hier wirft die russische Seite bedenkenlos die Söldnertruppe Wagner mit ihren aus Gefängnissen rekrutierten Soldaten in den Fleischwolf des Kriegs.
Es gibt Meldungen, dass bereits 95 Prozent der russischen Armee in der Ukraine sind und dass der Ukraine ebenfalls die Munition auszugehen droht. Wie lange können beide Seiten so noch weitermachen?
Die ukrainische Seite hat zuletzt die Lieferung von Kampfjets gefordert. Diese stehen aber eigentlich nicht oben auf der Liste des militärisch Notwendigen. Viel wichtiger sind Kampfpanzer, um Vorstöße durch die russischen Linien zu wagen. Zudem ist die Lieferung von Munition entscheidend. Bidens Besuch am Montag in Kiew war nicht nur ein mutmachender symbolischer Akt. Der US-Präsident brachte auch wichtigen Zusagen mit für die weitere Lieferung von Munition, Panzerabwehrraketen, Radarsystemen und auch von Waffen mit großer Reichweite.
Mit dem letzten Punkt sind wohl HIMARS-Raketengeschosse mit einer Reichweite von bis zu 200 Kilometern statt bisher nur 80 Kilometer gemeint. Damit bekäme die ukrainische Armee die Möglichkeit, russische Nachschubwege stärker unter Beschuss zu nehmen. Das würde eine neue militärische Dynamik in Gang setzen, aber auch ein hohes Eskalationspotenzial in sich bergen, weil der Krieg so zunehmend auf russisches Territorium getragen werden könnte.
In Deutschland ist es durchaus populär, der Ukraine zu empfehlen, Territorium gegen Frieden einzutauschen. Ein bedenklicher Weg?
Putin die Ende September 2022 neu annektierten Gebiete zuzubilligen, ist kein Ausweg. Zum einen wird sich die Ukraine nach den schrecklichen russischen Kriegsverbrechen nicht darauf einlassen können, die dort lebenden Millionen ukrainischer Bürger der brutalen russischen Besatzungsherrschaft zu überlassen. Zum anderen wäre ein derartiges Abkommen das komplett falsche Signal an die Welt des 21. Jahrhunderts. Es würde deutlich machen, dass sich Angriffskriege und Formen der nuklearen Erpressung lohnen.

Nachahmer in anderen Regionen der Welt könnten schnell parat stehen. Ich denke vor allem an China in der Taiwan-Frage, aber auch an aufstrebende Mächte wie Saudi-Arabien oder den Iran. Ferner wissen wir nicht, was Nordkorea mit seinen Atomraketen vorhat. Wir müssen uns vor Augen führen, dass gegenwärtig mehr als nur die Ukraine auf dem Spiel steht. Aktuell erfolgt die globale Weichenstellung für die weitere politische Entwicklung im Ringen zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Völkerrecht und Eroberungswahn.
Aber es ist doch unrealistisch zu glauben, dass es der Ukraine gelingt, Putins Armee komplett aus dem Land zu treiben, oder?
Die Ukraine versucht aktuell, dem russischen Großangriff standzuhalten. Bislang ist das halbwegs gelungen. Die ukrainischen Verbände haben sich in Bachmut eingegraben und werden nicht auf breiter Front zurückgeschlagen. Wenn bald die Leopard-Panzer an der Front ankommen, könnte die ukrainische Armee mit dieser Schlagkraft in der Lage sein, Vorstöße durch die russischen Linien Richtung Mariupol oder Krim zu wagen. Das würde das Kriegsgeschehen verändern. Fraglich bleibt aber, ob diese neue Offensivkraft es ermöglicht, die russischen Truppen vom ukrainischen Territorium zu vertreiben.
Also es geht einfach weiter, und wir wissen nicht, wie es enden soll?
Niemand kann sagen, wie dieser verdammte Krieg enden wird. Putin stellt seine Volkswirtschaft auf einen Zermürbungskrieg ein, um seinen Kriegstriumph unter allen Umständen zu erzwingen. In der Ukraine ist die Wehrhaftigkeit weiterhin sehr hoch, weil dort niemand Teil der russischen Welt werden will. Zuletzt gab es interessante Meinungsumfragen zum Vorschlag Friede gegen Territorium. In Deutschland stimmen dem 50 Prozent zu. In der Ukraine sagten über 90 Prozent allerdings, dass es erst Waffenstillstandsverhandlungen mit Russland geben dürfe, wenn sich die russische Armee aus allen besetzten Gebieten zurückgezogen habe – auch von der 2014 annektierten Halbinsel Krim.
Wir können also auf beiden Seiten gerade das Primat des Militärischen erkennen. Das führt dazu, dass sich das blutige Kriegsgeschehen in den nächsten Monaten mit noch gesteigerter Intensität fortsetzen wird. Nach dem Ende der Schlammzeit sind große Schlachten und Formen des Bewegungskriegs zu erwarten. Beide Seiten werden versuchen, die gegnerischen Linien zu durchbrechen, um größere Gebietsgewinne zu erzielen. Niemand kann sagen, wer am Ende die Überhand haben wird. Wenn wir die Ukraine weiter stärken wollen, dann müssen wir ihr weiter ausreichend Waffen und Munition liefern. Ansonsten wird die Ukraine verlieren und untergehen.
Sehen Sie die Möglichkeit, dass Putins Stuhl ins Wanken gerät – vielleicht auch nach seiner Rede an die Nation?
Seine Rede war wirklich enttäuschend – nichts wirklich Neues. Aber die russische Propagandamaschine läuft seit einem Jahr auf Hochtouren. Es gibt große Teile in der russischen Bevölkerung, die der Z-Propaganda des Kremls glauben. Dazu zählen vor allem ältere Menschen und Leute in der Provinz, die kaum andere Informationsquellen als das Fernsehen haben. Diejenigen, die politisch Widerstand geleistet haben, sind wegen der brutalen Verfolgung ins Ausland gegangen. Die aktuellen Schätzungen gehen von 700 000 Menschen aus. Sie fehlen natürlich, um den gesellschaftlichen Unmut und auch die Trauer wegen der Kriegsverluste politisch in Form von Massenprotesten zu organisieren.
Aber sie fehlen doch auch, um das Land zukunftsfähig zu halten. Das ist doch die intellektuelle Elite, die geht, oder?
Das auf jeden Fall. Russland sind im letzten Jahr zahlreiche Spitzenkräfte aus Wirtschaft, Naturwissenschaft und Kultur verloren gegangen. Bedeutende Zukunftsprojekte liegen zudem wegen der Sanktionen brach – sei es im Bereich der Informationstechnologie, der Wasserstoffproduktion oder auch beim Ausbau der Nord-Ost-Passage durch das Nordpolarmeer zu einem international bedeutsamen neuen globalen Handelsweg. Aber lassen Sie mich den Gedanken zur gesellschaftlichen Stimmung noch zu Ende führen: Mein Eindruck – und das wird mir in den Telefonaten mit Kollegen und Freunden in Russland bestätigt – ist, dass die meisten Russen bemüht sind, den Krieg von sich fernzuhalten.
Aber er bricht natürlich trotzdem immer in ihren Alltag ein – allein wegen der vielen Toten und Verwundeten. Fraglich bleibt, ob es sich bei dieser bewussten Distanzierung vom Kriegsgeschehen um Apathie und Lethargie oder um eine Art passiven Widerstand handelt. Ich glaube aber, dass in dem Moment, in dem Putins Macht weiter bröckelt und er von den Eliten im Kreml nicht mehr als Garant der Ordnung, sondern als Destabilisator gesehen und damit herausgefordert wird, der Großteil der russischen Bevölkerung kein Problem mehr damit haben würde, sich von ihm zu verabschieden. Noch sitzt Putin allerdings einigermaßen fest im Sattel. Es braucht vor allem militärische Niederlagen auf den ukrainischen Schlachtfeldern, bis seine Macht tatsächlich ins Rutschen gerät.
Welche Rolle spielt China?
China will auf keinen Fall auf der Verliererseite sein. Als die Ukraine im Spätsommer auf dem Schlachtfeld Erfolge erzielte, übte Peking Druck auf Putin aus, er solle dem Krieg ein Ende bereiten. Zudem machte Peking dem Kreml klar, dass es den Einsatz von Nuklearwaffen auf keinen Fall dulden würde. Jetzt scheint sich wieder etwas zu verschieben. Das liegt auch daran, dass sich das amerikanisch-chinesische Verhältnis in letzter Zeit erheblich verschlechtert hat – ich erinnere nur an den abgeschossenen Spionage-Ballon. Es kann sein, dass sich China nicht nur mit politischen Initiativen als Friedensmacht in Szene setzen will, sondern durch eine Stärkung Russlands zugleich versucht, mehr Druck auf die USA auszuüben.
Sollte Peking aber tatsächlich Waffen oder militärisch nutzbare Güter an Russland liefern, dann wäre dies ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Dieses sieht nämlich vor, dass andere Staaten nicht dem Aggressor, sondern nur dem überfallenen Land Waffenhilfe leisten dürfen. Wirtschaftssanktionen gegen China müssten dann die Folge sein. Das hätte schwere Folgen für die Weltwirtschaft. Sie könnte dadurch in Schieflage geraten. Das würde gleichsam China schwer treffen, und das ist der Führung in Peking natürlich bewusst. An diesem globalen Machtpoker sehen wir noch einmal, wie viel aktuell eigentlich auf dem Spiel steht.