Debütroman von Sänger Markus Berges
„Vergiss nie, woher du kommst!“, sagt Herr Lauban seiner Tochter Betti drohend im Streit. Wenn sie sich tatsächlich nach Monaco reise, dann könne sie gleich ausziehen. Von Annette Kiehl
Doch die 19-jährige Abiturientin und angehende Krankenschwesternschülerin aus Warendorf macht sich auf den Weg. Steigt in den Zug nach Südfrankreich, denn dort erwartet sie ihre Brieffreundin September Nowak, eine mondäne junge Frau, die in einem Penthouse in Monaco wohnt, Ballett tanzt und den Winter in Skihütten verbringt. So hat sie es über Jahre in ihren Briefen geschildert. Doch am Bahnsteig von Nizza entpuppt sich September als Nicole; arm und dick, wohnhaft in einer engen Wohnung mit Plastik-Tischdecken inmitten eines schäbigen Viertels. Die Briefe schickte ihre Mutter, eine Putzfrau, in Monaco ab.
Der große Schwindel ist nur der Anfang des Abenteuers von Betti aus Warendorf und der Startschuss ihres Erwachsenwerdens. In seinem Debütroman „Ein langer Brief an September Nowak“ schildert der „Erdmöbel“-Sänger Markus Berges Bettis Reifung an der Herausforderung Leben und ihre turbulente Reise zu sich selbst.
Die Geschichte spielt 1995 und erzählt somit von einer der wohl letzten Brieffreundschaften, bevor E-Mail, SMS und Facebook-Statusmeldungen den Austausch per Post weitgehend ersetzten. Berges stammt selbst aus Telgte und er schildert die kleinbürgerliche Herkunft seiner Heldin – mit Hund „Hexchen“, Sparsamkeit im Alltag und großer Sehnsucht – in wenigen Worten treffend, ohne Häme. Doch genauso wie er die Begrenztheit ihres Lebens skizziert, so traut er Betti auch ganz viel zu, lässt sie über sich hinauswachsen.
Die Reisende kann sich nicht auf die wahren Lebensumstände ihrer Brieffreundin einlassen und verlässt nach ein paar Tagen mit Tränen und etwas Selbstmitleid deren Wohnung. Gestrandet in einem Schwimmstadion trifft Betti auf eine Frau und ihren erwachsenen Sohn und schließt sich ihnen auf ihrer Wohnmobilfahrt an. „Betti stank nach Schweiß und war frei“, fasst Berges den mutig-naiven Sprung ins Abenteuer zusammen. Nun lässt sich die junge Frau treiben, feiert, trifft neue Gefährten, verliebt sich, begibt sich in Gefahr – und legt sich eine ebenso erschwindelte Identität zu, wie „September Nowak“ es tat.
Berges‘ Schilderungen greifen diese Atemlosigkeit auf, und es bereitet manchmal Mühe, mit Bettis Entwicklung in diesem „Roadmovie“ Schritt zu halten. So hat der Roman etwas von einem Traum, einer Erinnerung: etwas durcheinander, nicht ganz objektiv, von Melancholie und Verklärung durchmischt, doch immer lebendig.
„Ein langer Brief an September Nowak“ ist geprägt von Berges‘ Nähe zur Kunst. So kleinbürgerlich Bettis Herkunft ist, so bringt der 44-jährige Musiker der Kölner Kultband und Teilzeit-Lehrer seine Heldin immer wieder in Kontakt mit Künstlern: Mit E.T.A. Hoffmann, dessen phantastisch-groteskes Märchen vom „Meister Floh“ sie auf ihrer Reise liest, mit Walter Benjamins Philosophie, und mit der Fotografie. Denn Betti ist begeisterte Lomografin und fotografiert ihre Erlebnisse mit der russischen Schnappschuss-Kamera.
Mehr als zehn Jahre später arbeitet sie selbst in der Kultur. In einer Ausstellung wird die junge Frau von Andreas Gurskys Foto des monegassischen Schwimmstadions überrascht. Doch ihre Wehmut wirkt gar nicht kitschig, sondern berührt und macht Mut. Diese Szene schließt den Kreis einer außergewöhnlichen und gar nicht desillusionierenden Geschichte einer großen Täuschung.
Markus Berges: Ein langer Brief an September Nowak. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin. 206 S., 18,94 Euro