Boris Nikitin bei der Ruhrtriennale „Sänger ohne Schatten“ in Gladbeck

Von Achim Lettmann - GLADBECK „Hier ein nacktes hohes G“, sagt Christoph Homberger. Der Sänger, der keine Opern singen will, liegt in einer Art Probenstudio. Es ist ein kleiner Raum mit einem erwartungsfrohen Publikum, dem ein mächtig lautes G entgegengehauen wird und erschreckt.
„Gott! Oh, grauenvolle Stille“ singt der Tenor dann maniriert und verwandelt sich auch ohne Bühnenbild, Kostüm und Musik zu Florestan („Nichts bleibt außer mir“) aus Beethovens Oper „Fidelio“. Das Leid des Eingekerkerten erfüllt den Raum, und Homberger demonstriert, wie schnell einen die geschulte Opernstimme in den illusorischen Bann des Musiktheaters zieht. Bitteschön.
Homberg ist für die rotzigen Überraschungen zuständig, die Regisseur Boris Nikitin in seine Stimmenperformance „Sänger ohne Schatten“ eingebaut hat. In der Gladbecker Maschinenhalle Zweckel wird sein wechselvolles Programm bei der Ruhrtriennale uraufgeführt. Nikitin (Basel), der mit unkonventionellen Bühnenprojekten Erfolg hat, setzt auf Opern- und Liedklassiker, verliert sich aber nicht im Medley-Frohsinn. Wichtig ist ihm zu vermitteln, was eine Opernstimme kann, und was sie für die Sängerin und den Sänger bedeutet. Was ist Stimme, was bin ich? Durch den Unterricht führen neben dem 50-jährigen Homberger („Ich singe mich nie ein“), der Contertenor Yosemeh Adjei (40) und die Sopranistin Karan Armstrong (70), früher Primadonna der Deutschen Oper Berlin. Die Amerikanerin ist der Star. Sie muss im Rollstuhl sitzen, weil sie ein Bandscheibenvorfall aus der Probenarbeit sie dazu zwingt.
Regisseur Boris Nikitin verlässt sich auf die Neugier, die in einem Vortragsraum geweckt wird, wenn die Dozenten erscheinen. Yosemeh Adjei bietet eine frische Vorstellung des Lehrpersonals und zeigt eine Stimmübung, die eigentlich zu intim ist, um öffentlich zu werden. Der Blick hinter die Kulissen ist ein weiteres Versprechen, das die Produktion „Sänger ohne Schatten“ gegeben hat. Enthüllungen gibt es aber nicht. Vielmehr wird die Identität der Opernstimmen transparenter. Adjei singt den persischen König Siroe aus Händels „Siroe, re di persia“ hingebungsvoll, verzweifelt und mit bebenden Armen vor seinem T-Shirt. Dem Herrscher Persiens wird klar, wie fern ihm die Menschen sind, denen er bisher vertraut hat. Adjei geht in seiner Rolle auf, ist ernsthaft und wird von Homberger runter geholt: „Echt toll“. Dieser launige Stil amüsiert. Auch Karan Armstrong unterhält mit ihrer Biografie, wie sie als Mädchen alle Kneipensongs Montanas beherrschte, bevor sie bei Lotte Lehmann ihren Sopran ausbildete („Ich spiele über meine eigenen Grenzen“). Und was Regisseur Willy Decker nach dem Tod ihres Mannes wollte? Natürlich ihre gebrochene Stimme, für die Rolle der Küsterin, der Kindsmörderin aus der Oper „Jenufa“. Decker hat sie bekommen, aber die Wiederaufnahme habe sie nicht mitgemacht, sagte Armstrong.
Die Maschinenhalle mit ihrem historistischen Baustil wird erst sichbar, als der Kasten des Probenstudios im zweiten Teil angehoben wird. Homberger und Adjei treten hinaus und singen „Lieder eines verliebten Muezzins“ von Karol Szymanowski. Immer wieder vor und hinter den Energieumwandlern ist die Industriearchitektur ihre Resonanzhalle. Das wirkt erhaben, aber mehr auch nicht. Auf der Videoleinwand sind sie zu sehen. Auch der Probenkasten wird von außen zum schwarzweißen Videobild. Es sind nur visuelle Blickachsen. Aus der Tiefe des Raumes kommt Regisseur Nikitin nicht.
Dass der Opernsänger ein „Untoter“ ist, der immer zurückkehrt, wenn er seine Rolle singt, ohne dabei einen „Schatten“ zu werfen, das ist eine Erkenntnis, die Boris Nikitin in seiner Uraufführung bearbeitet. Musiker und Komponist Stefan Wirth sitzt am Klavier und spielt Franz Schuberts „Doppelgänger“-Lied aus dem Schwanengesang. Erst Adjei, dann stimmt Homberger ein; ein Duett, das wieder im Probenstudio gesungen wird, und intim wie eigentümlich wirkt. Tenor und Countertenor sind originell, aber das Thema „Untote“ wird dadurch nicht erhellt.
Berührend ist vielmehr Karan Armstrong, die einen Blick in ihr Rollenleben als Marschallin aus Richard Strauß’ „Rosenkavalier“ zulässt. Sie liebe diese Rolle, sagt sie, und singt sie nun mit mehr Melancholie und mehr Wortgespür. „Wo ich doch immer die gleiche bin“ klingt reif und transportiert souverän ein Selbstverständnis, das ihre pragmatische und respektvolle Haltung zur Kunst spürbar macht. Dankeschön.
28., 29., 30. August, 5., 6., 7., September; Tel. 0221/280 210; www.ruhrtriennale